Rosinenpicker / Raisins collector
14.10.2015 Nakham / Laos / N18°23’53.0“ E103°15’45.5“
Mein Computer sagt mir, dass er seit 300 Tagen kein Sicherheitsupdate gemacht hat. Aus unserem Büro zu Hause kommt uns die frohe Kunde zu, dass ein kleiner Junge geboren wurde. Wobei wir von einer neun monatigen Schwangerschaft nichts wussten. Meine Haare haben sich ihre eigene Form und Länge gesucht. Im Winter sind wir von zu Hause los gefahren und heute erreichen uns die Nachrichten von dort über den ersten neuen Schnee. Nur einige der vielen Anzeichen, dass wir nun doch schon eine ganze Weile unterwegs zu sein scheinen. Wie fühlt es sich für mich an? Lang? Ja! Unglaublich viel ist an allen Orten der Welt in der Zwischenzeit geschehen. Manchmal habe ich das Gefühl die Welt nicht wiederzuerkennen, wenn wir denn eines Tages nach Hause kommen. Mein Blick wird sich verändert haben. Aber vor allem eben auch das was meine Augen sehen, wird etwas anderes sein. So wird mein Reisen weiter gehen. So wie für uns alle. Zu jeder Zeit, an jedem Ort, mit Gepäck und ohne. In dem Bewusstsein des unterwegs seins, oder auch nicht.
Bin ich reisemüde nach zehn Monaten? Ich würde es als Phasen beschreiben, die ich durchlebt habe und durchlebe. Da war das nicht Begreifen und langsame Einlassen auf mein unterwegs sein am Anfang. Da war die Zeit des offenen Aufnehmens von ALLEM was um mich war. Wie ein kleines Kind habe ich mich dabei gefühlt, was abends hundemüde umfiel und sofort eingeschlafen ist, weil soooo viel auf mich eingestürmt ist. Jedes Land fordert neue Aufmerksamkeit. Jeder Ortswechsel verlangt meine Offenheit für das Neue und Fremde. DAS ist zu meinem Alltag geworden. Auf die Menschen zuzugehen, die uns begegnen. Mit ihnen Kontakt aufzunehmen und in eine, wie auch immer geartete Form des Austausches zu treten. Heute sehe ich mich, wie ich mit den Kindern des Dorfes die Zeichensprache der Tiere übe. Ich mache ihnen einen Elefant vor, und zwanzig Jungs machen ihn nach. Manche haben den Dreh gleich heraus, andere verdrehen die Arme und doch wird es kein Elefant. Oder den Hasen. Bei dem die Ohren in Form meines Zeigefingers und kleinen Fingers wackeln. Die Kamera lasse ich inzwischen gern einfach stecken. Ich muss nicht mehr alles fotografieren. Oft habe ich mehr Spaß daran, die Situationen einfach zu erleben und keine weitere Zwischenebene einzuziehen, indem ich meine Kamera zücke. Würde ich jetzt aus Deutschland kommen und für drei Wochen Laos bereisen, wäre mein Erleben bestimmt irgendwie anders. Jetzt ist es Teil meines großen, ganzen Erlebens. Manches blende ich aus, weil es mir zu viel ist vielleicht. Anderes bekommt meine Aufmerksamkeit. Wie eine Rosinenpickerin fühle ich mich, wenn ich mich auf ein Detail ausschließlich konzentriere und alles andere sich selbst überlasse. Heute sind es die Schmetterlinge, die zu Hunderten um uns herum flattern. Nicht alle auf einmal. Doch über den Tag verteilt sind es echt Viele, die wir sehen. Mitunter geradezu schwerfällig erheben sie sich zum Fliegen, mit ihren Spannweiten von oft zehn Zentimetern. Groß sind die meisten und eher dunkel. Schwarz mit hellblauen Rändern. Schwarz mit einer türkisfarbenen Oberseite. Schwarz mit roten Sprenkeln. Aber auch Gelbe und Beigefarbene mit braunen Außenseiten sehe ich. Mal haben sie runde Formen und dann sind sie wieder eher gezackt. Am goldenen Tempel flattern sie genau so umher wie auf der staubigen Straße. Schmetterlinge begegnen mir hier wie bei uns die Spatzen. Wobei es an Vögeln nicht so viele sind, die sich uns zeigen. Wir hören sie oft, doch sehen sie selten. Angeblich soll ein Vogel hier gern auf den Mittagstischen landen, oder in einem Käfig, als Haustier gehalten. Doch ich hoffe für die Vögel, dass sie in den Tiefen des Dschungels doch ihre versteckten Oasen haben. In denen sie es nicht nötig haben, sich uns Menschen zu zeigen. An fast jedem Tag an einem neuen Platz zu erwachen ist inzwischen unser Alltag. Manchmal brauche ich am Morgen etwas, um mich des Ortes zu erinnern, an dem wir am Abend Halt gemacht haben. Ich versuche dann die Geräusche einzuordnen und sie mit irgendwelchen Bildern in meinem Kopf passend zu machen. Heute wache ich an einem großen Stausee auf. Die Bergkuppen der alten Landschaftsform ragen noch aus dem Wasser. Alles andere ist überspült. Als sei eine große Glasscheibe über die Landschaft gelegt worden. Die Getränke-Verkaufsstände in den Blechhütten, zehn Meter von uns entfernt, haben ihren Betrieb schon aufgenommen. Die Kinder des Dorfes springen um unseren Leo herum und die Intensität der Sonne gibt uns morgens um acht Uhr unmissverständlich zu verstehen, dass es Zeit zum Aufstehen ist.
Ein kleines schwimmendes Restaurant wartet auf uns. Also esse ich dort fünf kleine asiatische Bananen und trinke Kokosnussmilch zum Frühstück. Mit einem Sprung vom Restaurant-Rand findet Sten für Sekunden Abkühlung im Wasser. Dann starten wir den Leo und der Tag kommt ins Rollen. Vorbei an Regenschirm tragenden Mönchen, Kindern und Alten. Doch der Schirm hat Sonnenschutz Funktion. So sehr brennt sie vom Himmel herab. Die fischenden Frauen behelfen sich mit ihren, mir aus Vietnam bekannten, Strohhüten. Im Wasser sitzen sie oder stehen. Vor sich einen großen Kescher. Ganz still halten sie den ins Wasser, um ihn dann ruckartig anzuheben um nachzusehen, ob sich ein paar Minifischchen im Netz verfangen haben. Die räuchern sie später und sind so ein kleiner Snack für Zwischendurch.
Am Straßenrand sehen wir oft kugelförmige Gummibehälter mit Deckel. Für den Müll sind die bestimmt. Ebenfalls am Straßenrand treffen wir heute auf eine Familie, die diese Kugeln herstellt. Aus alten Autoreifen machen sie das. Eine Vorrichtung hilft ihnen, die Gummi-Laken voneinander zu trennen, so dass aus dem Inneren eines Reifens eine „fast antik aussehende Amphore“ entsteht. Die ganze Familie ist am Machen. Und wie immer, finden das Leben und die Arbeit am gleichen Platz statt. Der eine Raum ist der mit den Matratzen zum Schlafen, gleich im Nachbarzimmer findet sich die Werkstatt mit all ihren Gummireifen.
In der Tankstelle ist es genau so. Die ganze Familie lebt dort. Auf Liegen strecken sich alle aus, wenn gerade kein Kunde kommt. Einer der Familie erhebt sich langsam, wenn wir mit Leo angefahren kommen um Diesel zu kaufen. Zwischen 60 und 70 Cent kostet umgerechnet hier ein Liter.
Den „Feuerball“ Laos lassen wir heute hinter uns. Soll heißen, dass wir den fast kugelrunden Norden nun beinahe durchfahren haben. Wir bewegen uns auf den langen „Schweif“ des Landes zu. Im Norden ist das Land hügelig, zerklüftet und von Bergvölkern bewohnt. Heute öffnet sich das Land vor unseren Augen und weite Ebenen machen Wasserbüffel Herden sichtbar, am Rande des Mekong. Die „Mutter aller Flüsse“ hat es mitunter faustdick hinter den Ohren. Vier komplette Häuser hat sie vor wenigen Tagen mit sich gerissen. Wir kommen gerade dazu, wie eine offizielle Delegation Umschläge mit Geld an die betroffenen Familien verteilt. Uferabstützungen gibt es nicht. Der lockere Boden macht, was ihm die Kräfte sagen.
Eigentlich wollten wir an dieser Stelle Halt machen für die Nacht. Doch dieses Ereignis lässt uns betroffen weiter fahren. Bis wir in einem Dorf ankommen. Dessen Dorfältester erst befragt werden muss, ob wir für eine Nacht hier stehen dürfen. Mit dem Dorfältesten kommen fast alle Bewohner des Dorfes zusammen, und stehen um unseren Leo herum. Was für ein Bild. Der Leo. Die Menschentraube und das gesamte Szenario eingebettet zwischen neonbeleuchteter Krankenstation und formvollendetem Klostereingang. Und ich, die Rosinenpickerin, stehe dazwischen und bin einmal mehr fasziniert über so viel zufällige Lebendigkeit, die meinem Leben widerfährt.
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