Alles bleibt anders / Everything remains different
16.05.2015 Kapschagaj-Stausee / Kasachstan / N43°51’09.7“ E077°52’15.5“
Spontanität, das ist die Sportart in der wir uns wohl gerade am meisten trainieren. Jeden Tag gibt es in den angrenzenden Disziplinen Erwärmungsübungen, Aufbauprogramme und kleine eingestreute Partneraufgaben. Muskelkater haben wir von dem ganzen Spontanitätsprogramm schon lange nicht mehr. Wir befinden uns eher im Fortgeschrittenen Level, wie uns scheint. Doch vielleicht trügt uns das Gefühl und wir turnen noch voll im Anfängerkurs. Keine Ahnung. Auf jeden Fall sind wir mittendrin. Gestern in Almaty angekommen, hatten wir die kurz gefasste klare Vorstellung, wir machen uns mit dem Chef der AHK bekannt und fahren dann zur Werkstatt weiter, um uns vorzustellen und abzustimmen, wie wir mit dem Getriebe verfahren. Bei der AHK angekommen, war der Chef freundlicherweise bereit uns mehr seiner Zeit zu geben als wir hoffen konnten. Und Hilfe bot er uns sofort an, was den Vorgang der Anmeldung in Kasachstan betraf. Es war schnell herauszubekommen, dass die Meldestelle noch genau eine Stunde geöffnet haben würde. Also nichts wie spontan umentschieden und mit der muttersprachlichen Unterstützung und dem Backround der Deutschen Wirtschaft zur Emigrationsbehörde gefahren. Das sollte es uns dort um Einiges leichter machen. Die Pässe mit allen nötigen Angaben, Formularen und Hinweisen abgegeben hielten wir an dem Plan fest zur Werkstatt zu fahren. Also, Arm raus halten. Um eines der „Taxis“ abzufangen, die auch hier von fast jedem gefahren werden. Zur besseren Verständigung dem Fahrer das Telefon ans Ohr gehalten, so dass unsere Kontaktperson in der Werkstatt den Weg beschreiben konnte. Langes hin und her. Fragende Blicke. Dann Telefon wieder am Ohr von Sten. Eine Stunde dauert die Fahrt mindestens. Macht es wirklich Sinn, diese zwei Stunden Hin und Rück auf sich zu nehmen, jetzt, an diesem Abend? Wir entscheiden uns spontan um und verabreden uns für einen Zeitpunkt nach dem Wochenende, wenn wir, so alles bis dahin klappt, aus dem Norden der Stadt kommen und somit in direkter Nähe wären. Also, wieder aussteigen, den Taxifahrer mit leicht verdutztem Blick zurück lassen und neu denken. Wir haben jetzt urplötzlich einen freien Abend und gehen entspannt essen. Können wir ehe nur sehr selten machen. Die Garküchen an den Straßen haben oft sehr viel Lokalkolorit doch sind wir uns nicht sicher, ob unsere Mägen so viel Abenteuerlust verdauen. Hier in Almaty sehen die Speisen Vertrauenerweckend aus und so gönnen wir uns einen Abend voller Sommergefühl. Nächster Tag. Heute. Zwölf Uhr heißt es, können wir die Pässe mit den nötigen Stempeln abholen. Da am Leo noch nichts gemacht werden kann, so lange das Getriebe aus Deutschland noch nicht eingetroffen ist, bleibt uns momentan einzig die Wahl, uns in der Nähe Almatys aufzuhalten und durch seichtes, für Leo vertretbares Gelände zu fahren. Also, Gemüse, Brot, Eier, Wasser einkaufen, dann die Pässe abholen und losfahren. Gemüse, Brot, Eier und Wasser bekommen wir. Das klappt. Am Schalter der Meldestelle sieht es da schon mal ganz anders aus. Die Dame dort, für mich der Prototyp der hiesigen Beamtin, ernster verschlossener Blick, streng zum Dutt gekämmte Haare, Uniform korrekt geschlossen, Sätze, die ihren Mund wie Salven verlassen. Sie nimmt unsere Zettel, die angeben, welche der beiden Pässe in dieser unendlich langen Reihe die unsrigen sind, schüttelt den Kopf, gibt uns die Zettel zurück und sagt „Montag“. Das kleine Fenster schließt sich. Ende der Vorstellung. Wie Montag? Das bedeutet, wir können uns keinen Meter weg bewegen. Denn ohne Pass ist es nicht möglich, die Stadt zu verlassen. Haben wir uns mit unserem Einkauf schon wieder zu weit hoffnungsfroh nach vorn gewagt? Waren wir schon wieder davon ausgegangen, dass etwas so läuft, wie gedacht? Wir greifen zum Telefon um bei der AHK anzurufen. Wir erreichen tatsächlich eine Dame, die verspricht, etwas für uns zu tun. Wir mögen bitte einfach warten. Und tatsächlich. Nach ein paar Minuten, greift Frau „Dutt“ sich unsere Pässe, um sie händisch zu den Damen zu bringen, welche die Bearbeitung vornehmen. Noch fünf oder sechs andere, dann ist unser Vorgang an der Reihe. Halten wir nicht tatsächlich am Ende der Öffnungszeit unsere abgestempelten Pässe in der Hand? Wir können es kaum glauben und danken unserer Kontaktperson im Hintergrund über alle Maße. Was sie getan hat, wissen wir nicht. Doch es scheint wirkungsvoll gewesen zu sein. Manchmal werden wir gefragt: „Wie kommt ihr nur zu den Leuten, die mit euch kochen?“. Zum Beispiel so. Ich frage einen ebenfalls wartenden Mann in der Meldestelle, ob ich sein T-Shirt mit der Aufschrift „Kazakhstan“ fotografieren darf. Er stimmt lachend zu und es entspinnt sich ein Gespräch zwischen uns. Dass er in Deutschland war und Trainer ist für die kasachischen Skiläufer. Dass er Deutsch spricht und sich gern mit uns verabreden würde. Wir gehen auf die Menschen zu und manchmal ergeben sich spontan ganz neue Dinge daraus. Wir lassen uns leiten von der Ausstrahlung der Menschen. So Vieles ist daraus ablesbar.
Wir können nun also doch die Stadt verlassen und tun es in nördlicher Richtung, um zu einem Stausee zu fahren. Klares Wasser und seichte Sandstrände sind die magischen Vorstellungen in unseren Köpfen. Vorbei nur noch an einer kilometerlangen Casino Meile. Achtzig Kilometer hinter Almaty hat man diese angesiedelt. Um das Spiel mit dem Glück nicht direkt in der Stadt zu haben. Dann, der See. Einhundert Kilometer ist er lang. Da sollte sich doch ein Plätzchen für uns finden. Wir fahren und fahren und erreichen das Ufer. Alles fein hier. NUR es leben Milliarden von Mücken am Ufer des Sees. Hier können und wollen wir nicht bleiben. Spontane Wendung. Wir finden unseren Halt landeinwärts auf dem Steppenland und schaffen es gerade noch rechtzeitig, uns ein wenig zu sortieren. Als ein Sturm aufzieht, der die Stühle wegbläst, alle Fenster zu knallen lässt, Sand durch die Gegend wirbelt, den Himmel verdunkelt und uns sagt: „Keine Ahnung wie ihr euch den Abend vorgestellt habt. Ich habe meine eigenen Pläne!“.