Gigantomanie / Megalomania
30.05.2015 Issyk-Kul Lake Tamga / Kirgistan / N42°08’45.9“ E077°32’46.7“
In den Bergen geschlafen. So fühlen sich unsere Rücken am Morgen an. Zurück geklappte Autositze ergeben eine Liegefläche die ok ist. Wirklich bequem ist was anderes. Wir fahren los und halten auch gleich wieder an. Ein junger Kirgise freut sich uns zu sehen. Er mag Ausländer und versucht mit Händen und Füßen irgendetwas zu erzählen. Einiges lesen wir seiner Körpersprache ab. Er ist fröhlich, voller Energie und Enthusiasmus. Und da wir den Zufall über alles lieben, lassen wir uns auf seine Einladung, ihm zu folgen, ein. Was er uns zeigt ist an verbaler Gigantomanie wohl kaum zu überbieten. Er führt uns zum „Mittelpunkt des Universums“. Einer riesengroßen verlassenen und verriegelten Anlage aus Beton, die bis vor wenigen Jahren der pure Ort der Erholung gewesen sein soll. Die Farbanstriche, Ornamente und Eisenkonstruktionen haben etwas bizarr Anziehendes, wirken auf mich wie die zurückgelassenen Reste eines Filmsets. Vielleicht liegt auch noch in irgendeiner Ecke ein Ufo herum, welches den Start verpasst hat. Doch ein klein wenig zu hoch haben die Mächtigen mit ihrer Namengebung: „Mittelpunkt des Universums“ vielleicht doch gegriffen? Ich denke einmal darüber nach…
Der Issyk-Kul ist im Ganzen seit vielen Jahren ein Naturschutzgebiet. Wenn wir uns in Anbetracht dessen all die verkorksten und verfallenen Bauruinen anschauen, die das Ufer teilweise säumen, tränen uns die Augen. Eine solch grandiose Landschaft derart mit leider wirklich hässlichen Größenwahnbauten zu verschandeln, denen dann mittendrin auch noch das Geld ausgegangen zu sein scheint, hat etwas Tragisches, wie ich meine. So stehen mitten in der Landschaft Betontreppen ohne Ziel, staken Armierungsstähle aus Betonbrocken in die Luft, bröckeln Fließen von ungenutzten Fassanden, säumen Mauern das an sonstem wunderschöne Ufer. Vielleicht sind die Gebäude als Nistplätze gedacht? Wer kann das so genau schon sagen… Tynystan, unser Begleiter, bringt uns zu seiner Familie. Sie lebt hier am See. Er selbst ist Student und wohnt in Bishkek. Übers Wochenende ist er nach Hause gekommen um sich zu erholen. Ganz still sitzen seine kleinen Geschwister am Tisch. Keinen Mucks geben sie von sich. Doch ihre Augen sind wach, die Blicke flink. Sie haben gesunde schöne Gesichter. Sie beobachten uns, ich beobachte sie. Ein leises Spiel. Eine ganz eigene Ebene. Wir kosten von einem gegorenen Weizengetränk. Es ist laut Anpreisung wahnsinnig gesund, doch wir schaffen es trotzdem nur ein paar Probeschlucke zu nehmen, halten uns lieber an das selbstgebackene Brot und die eigene Gartenmarmelade. Der Vater war Tierarzt. Jetzt ist er berentet. Doch er mag es nicht. Denn mit umgerechnet fünfzig Dollar pro Monat ist das Leben hart und die jüngsten Kinder noch immer klein. Mir wird mulmig zu Mute, wenn ich daran denke, dass unser Mietauto, mit dem wir hier in Kirgistan unterwegs sind, pro Tag unwesentlich weniger kostet. Die Eltern sind glücklich über unseren Besuch und winken uns lange nach. Tynystan sitzt mit uns im Auto. Er möchte uns seine Heimat zeigen. Der Tag vergeht wie im Fluge am Salzsee, dessen Wasser Sten und Tynystan schweben lässt, beim Picknick am Issyk-Kul, im Fairy tale Canyon und beim Fahren durch eine geniale Lehmstein Schlucht, die von den alljährlichen Massen des Schmelzwassers geformt wird. Acht Flüsse ergießen sich in den Issyk-Kul. Einen Abfluss gibt es nicht. Das Verdunstungs- und Niederschlags- System ist hier in den Bergen ein komplett eigener Kreislauf. Abends treffen wir auf Günther. Er kommt aus Franken und ist im Auftrag der SES unterwegs, dem „Senior Experten Service“. Die Vereinigung entsendet Fachleute zu jedwedem Thema an jeden Ort der Welt. Günther hat in Astana geholfen, den nachhaltigen Tourismus im Zuge der 2017 anstehenden Expo zu forcieren. Einem ereignisreichen Tag folgt ein langer Abend mit vielen Geschichten aus allen Ecken der Erde. Dem kann nur eine traumlose Nacht folgen. Sonst nichts.