Am seidenen Faden / In the silk thread
22.09.2015 Shangrila / China / N28°02’21.2“ E099°25’24.2“
Die Berge hüllen mich ein. Sie sind wie eine schützend wärmende Bettdecke und mächtig tobende Gebirgsriesen zugleich. Der Nebel des Regens schenkt ihnen ein behutsames Antlitz, macht sie für mich liebenswert, wenn ich die Sonne über die Kuppen blinzeln sehe. Zwischen Dreitausendfünfhundert und Viertausend Metern Höhe bewegen wir uns. Die Berge um uns herum erreichen schnell Zahlen, die mit einer „6“ beginnen und dann mindestens vier Nullen im Schlepptau mit sich ziehen. „Tibetisches Hochland“, noch in China gelegen. Es ist für mich neu zu erleben, dass ich mich, hier auf chinesischem Boden, von mehr Tibetern umgeben weiß, als es in Tibet selbst der Fall ist. Da die Tibeter hier weitestgehend „in Ruhe“ gelassen werden und Tibet selbst mehr und mehr von Chinesen bevölkert wird, um die Homogenität der Tibeter aufzubrechen. Geld bekommt man als Chinese dafür, wenn man nach Tibet umsiedelt. Eine Einwanderung als Unterwanderung sozusagen. Grenzen haben immer auch etwas Fließendes. Und wo sich Menschen vor Urzeiten ansiedelten, richtet sich sowieso nicht nach den scharf gezogenen Linien eines künstlichen Striches, auf dem dann Posten zur Grenzkontrolle aufgestellt werden. In Kasachstan leben Kirgisen, in der Mongolei Kasachen, in China Mongolen und Tibeter und immer so fort. Könnte alles so einfach sein. Ist es aber nicht…
Tibet ist für mich der Inbegriff des Buddhismus. Auch wenn der nicht aus Tibet stammt, sondern aus Indien kommt, wo er im 5. Jahrhundert mit „Siddhartha Gautama“ sein Licht entfachte. Und doch habe ich mich immer gefragt, wie der Buddhismus und die Gebetsfahnen in Zusammenhang stehen. Heute nun habe ich es erfahren. Bevor der Buddhismus im 7. Jahrhundert in Tibet Fuß fassten, gab es in diesem Gebiet eine andere Religion, die sich „Bön-Religion“ nannte. Die Riten der Gebetsfahnen, Pilgerwege und heiligen Landschaften in Tibet, stammen aus dieser Zeit und haben durch seine Verschmelzung zu einer ganz eigenen Ausprägung des Buddhismus in Tibet geführt. Die erste Ernennung für den damaligen Führer der Galugpa – Kämpfer mit dem Titel „Dalai Lama“, was so viel wie „Ozean der Weisheit“ bedeutet, wurde ihm durch einen Mongolen verliehen. Das war im 13. Jahrhundert und der Beginn der Verschmelzung von Religion und Politik in Tibet. Seit dem wird beides vom Dalai Lama geführt.
Wir winden uns Kurve für Kurve im Tibetischen Hochland nach oben und werden plötzlich mit ganz irdischen Themen konfrontiert. Jamie, unser Holländer ist mit seinem VW zwischen zwei Busse geraten. Es war an einem der vielen Serpentinenhänge. Jamie wollte einen Bus überholen, als plötzlich von oben ein weiterer auftauchte. So wurde er von den Bussen in die Mangel genommen. Glück im Unglück! Schrammen an beiden Seiten, ein umgeknickter Spiegel, der seine Splitter bis in Jamies Augen fliegen ließ, eine zerbrochene Frontscheibe an einem der Busse und ne Menge Schockgefühl sind die Ergebnisse. Wir anderen sind einmal mehr wachgerüttelt, ob des wahnsinnigen Verkehrs in China. Tempo, Enge, Rücksichtslosigkeit und absolutes Risiko sind die Attribute, die ich dem chinesischen Verkehr verleihe. Auf der Polizeistation erfahren wir, dass wir zwar alle miteinander versichert sind. Doch diese Versicherung sich ausschließlich auf „Unfälle mit tödlichem Ausgang“ beschränkt. Alles darunter ist „eigenes Vergnügen“. Was für ein Wahnsinn, ausschließlich in diesen Kategorien zu denken. Wir sind alarmiert und fassungslos zugleich. Der Abend wird für uns einer der ruhigeren. In dem vollen Bewusstsein, wie sehr alles, wirklich alles in jedem Augenaufschlag am seiden Faden hängt.
Mehr Bilder hier/ More pictures here