Geschwindigkeitsrekord / Speed record
09.07.2015 Barnaul / Russland / N52°38’39.7“ E083°00’49.6“
Landwirtschaft, beackerte Felder, angelegte Gärten, so weit unsere Augen reichen. Es ist grün, es ist üppig, saftig und voll in der Kraft des Wachsens begriffen. Sonnenblumenfelder, noch grün. Doch wir erahnen mit welcher Fülle das Gelb der Blüten in wenigen Tagen das gesamte Revier bestimmen wird. Wie kann es sein, dass nach einer Grenze von Land zu Land schlagartig das Bild der Umgebung wechselt? Ist da ein Kulissenschieber vor uns am Werk, der uns deutlich machen will, dass wir in Russland sind? Sind die Landesgrenzen von alters her mit den Landschaften entstanden? Waren die kasachischen Nomaden schon immer Eins mit ihrem Steppenland? Und bauen die Russen schon seit Jahrgedenken Gemüse und Getreide in ihrer sesshaften Manier an? Die Umgebung zumindest möchte uns diese Geschichte erzählen. Wir hören offenen Ohres zu und glauben was wir sehen.
Noch etwas ist vollkommen verändert. Seitdem wir Anfang des Jahres in die Türkei einreisten, bewegten wir uns den Monaten Januar, Februar, März, April, Mai, Juni und den halben Juli in der Welt des islamischen Glaubens. Mit der ersten Kirche, die uns unser Kulissenschieber zeigt, merken wir, dass es sich auch hierbei um einen Abschied handelt. Wir haben nun neuen Boden des Glaubens betreten. Den der russisch orthodoxen Kirche. Selbst in einem Land des christlichen Glaubens aufgewachsen, spüre ich, wie ein Heimatgefühl in mir aufsteigt, welches ich mir kaum erklären kann. Ich fand es höchst interessant, in den vergangenen Monaten Details über den mir bis dahin sehr entfernten Islam zu erfahren. Und das von Menschen, die mir nah stehen, denen ich mein Vertrauen schenke und sie mir das ihrige. Ich bin den Grundpfeilern ein Stück näher gerückt, ohne behaupten zu wollen, diese Religion durchdrungen zu haben. Doch ich merke, dass es mir gut tut, nun ein eigen geschaffenes, selbst erlebtes Bild in mir vom Islam zu tragen. Weit ab von allem, was das Fernsehbild mir weiß machen will.
Ja, je weiter ich mich von meinem „zu Hause“, entferne, umso deutlicher spüre ich es. Manchmal muss man wohl weg gehen, den Abstand vergrößern, um schärfer, um überhaupt sehen zu können. Der Begriff „Heimat“ füllt sich in mir mit Leben, Empfindungen, Verbindungen und Verbundenheit. Ich finde es schön, um meine Heimat zu wissen. Der Gedanke daran erdet mich.
So stehen wir heute mit unserem Leo auf einer großen, hoch gewachsenen Sommerwiese. Die Kühe grasen nicht weit von uns, die Vögel singen was das Liederbuch so hergibt und wir sitzen mittendrin und können es kaum greifen. Wir haben es geschafft in das nächste Land unserer Reise zu gelangen, nach Russland. Und die Grenze? Und die lange Prozedur? Und das Warten und von Hütte zu Hütte laufen? Heute gab es von alledem gar nichts. Wir fuhren an die kasachische Grenze heran, standen etwas, schwatzten ein wenig mit den anderen Wartenden. Danach ging es in die Grenze hinein. Ein Beamter stempelte unsere Pässe ab. Und das war es auch schon auf der kasachischen Seite. Keine Fahrzeugkontrolle. Keine langwierigen Papierschiebereien. Nichts wollte er sehen, was sonst für Aufsehen sorgte. Die angeblich so wichtigen Papiere, die bezeugen, dass der Leo rechtmäßig mit uns fährt und ähnliches, interessierten nicht im Geringsten. Uns sollte es recht sein.
Auf der russischen Seite genau das Gleiche. Einfaches Abstempeln unserer Visa, kurzer freundlicher Blick in den Leo und fertig waren wir. Etwas mehr als einer Stunde war zwischen Ankunft und Abfahrt an der Grenze vergangen. Wir waren selig und verleihen dieser Grenze unseren Orden des „Geschwindigkeitsrekords“.