7.Step – Eastern Kazakhstan
Description
Weiter geht es auf unserer Reise nicht wie geplant nach Kirgistan, sondern ohne Visa nach Ost-Kasachstan. Hier wollen wir in Almati unser Gertriebe, welches uns seit dem Iran Probleme bereitet, versuchen zu wechseln. Also werden wir hier warten lernen! Vielleicht führt uns der Weg doch noch nach Kirgistan?
- 0 Kommentare
Letzter Tag in Kasachstan? / The last day in Kazakhstan?
08.07.2015 Semey / Kasachstan / N50°37’41.9“ E080°34’35.2“
Am 28. März sind wir zum ersten Mal nach Kasachstan eingereist. Das war ganz im Westen am Kaspischen Meer. Eigentlich wollten wir damals nur zwei Wochen bleiben, weil unser Visum danach auslief. Doch vier Tage vor dessen Ablauf blieb der Leo endgültig stehen. Und so wurden aus den geplanten zwei Wochen mit umständlicher Visaverlängerung, vier Wochen. Auf den Tag genau, einen Monat später, verließen wir Kasachstan am 28. April, um nach Usbekistan zu reisen. Ursprünglich hatten wir uns auch für Usbekistan einen Monat Zeit eingeräumt. Doch zwei Wochen unseres Usbekistan-Visums waren nun bereits aufgebraucht, durch die Verlängerung in Kasachstan. So blieben wir vom 28. April bis zum 12. Mai in Usbekistan und reisten danach erneut in Kasachstan ein. Unseren ursprünglichen Plan nach Kirgistan weiter zu fahren, hatten wir auf Grund unseres nur mit Ach und Krach funktionierenden Verteilergetriebes aufgegeben.
Visa-frei kann inzwischen jeder Deutsche für zwei Wochen nach Kasachstan reisen. Und so machten wir Gebrauch von dieser Regel. Denn nur in Kasachstan bestand die Möglichkeit, dass wir eine Lösung für unser Getriebeproblem finden konnten, indem ein neues Verteilergetriebe aus Deutschland geschickt werden würde. Deutschland und Kasachstan haben ein Handelsabkommen. Einzig dieses konnte uns in dem Fall helfen. So blieben wir bis zum 26. Mai auf dem für uns sicheren Boden Kasachstans. Immer in der Nähe der Werkstatt. Am 26. Mai waren die zwei Wochen des visafreien Aufenthalts abgelaufen. Wir mussten erneut das Land verlassen. Diesmal ließen wir unseren Leo schweren Herzens zurück und flogen nach Bishkek in Kirgistan. Vom 26. Mai bis zum 04. Juni verbrachten wir eine herrliche Zeit in Kirgistan. Die Landschaft und die Menschen haben es uns dort sehr angetan. Inzwischen hatten wir uns aus Deutschland ein neues Visum für Kasachstan besorgt. Für zwei Monate erlaubte uns dieses den Aufenthalt im Land. Wir hatten sogar die Möglichkeit der zweimaligen Einreise, auf Grund dieses Visums. Dachten wir... Bis wir am 02. Juli erfuhren, dass wir spätestens am 04. Juli Kasachstan verlassen MÜSSEN. Es ist also keine Option der zweimaligen Einreise mit dem Visum, sondern eine Bedingung, nach dreißig Tagen das Land zu verlassen, um danach wieder einzureisen.
Zum Glück war genau an diesem Tag das Verteilergetriebe in unsere Hände gelangt und konnte angebaut werden. Am 03. Juli verbrachten wir dann unsere Nacht in der Grenze, um zum Einen die Stempel zur Ausfuhr des Getriebes zu erhalten und zum anderen unsere Wiedereinreise zu ermöglichen. Am 04. Juli waren wir wieder in Kasachstan und bewegten uns gen Norden. In Richtung der russischen Grenze. Denn um in die Mongolei reisen zu können, müssen wir den Weg über Russland nehmen. Zwischen Kasachstan und der Mongolei gibt es keinen Grenzübergang. So stehen wir nun einhundert Kilometer vor der russischen Grenze auf einer großen weiten Wiese. Unsere Blicke gleiten über die Ebene hinweg, die wir nun bald verlassen werden. Die kasachische Steppe hat es uns angetan. Das spüren wir. Ja, mit Schneestürmen hat uns Kasachstan Ende März begrüßt. Inzwischen ist es Sommer geworden und das Thermometer steigt bis an die 40 Grad heran. Wir blicken nach vorn, hin zu dem was vor uns liegt. Getragen von der Dankbarkeit und Erfülltheit über das, was wir in der langen Zeit in Kasachstan erleben durften. Und versinken in dem besonderen Augenblick der Ruhe, der untergehenden Sonne und der Friedfertigkeit, die der Boden unter uns zu atmen scheint.
Begegnungen aller Art / Meetings of all kind
07.07.2015 Ayagöz / Kasachstan / N48°04’12.0“ E080°16’11.6“
Eier für alle gibt es am frühen Morgen. Keiner von uns Vier sagt „Nein“, als ich mit der riesen Portion von zwölf gebratenen Spiegeleiern mitten auf der Wiese stehe. Frischen Espresso dazu, Himmel blau gemalt, Sonne angeknipst, ein leichter Windhauch beigemischt, fröhliche Menschen zusammen. Hey, was will ich mehr vom Leben? Einer dieser seltenen magischen Momente in denen alles zueinander passt. Schön finde ich, dass wir es alle so empfinden. Na klar, Glück vermehrt sich, wenn wir es teilen können. Getragen von dieser lichten Stimmung starten wir in den Tag. Immer parallel zur chinesischen Grenze schleichen wir gen Norden. Ja, bevor wir nach China dürfen, stehen noch ein paar andere Aufgaben auf unserem Zettel. Wenn alles gut geht, sehen wir China Anfang September wieder, dann von der anderen Seite. Nun, wir werden es erleben... Heute ist so ein Misch-Masch Tag. Ständig geschehen kleine feine Dinge, welche dem Tag eine schmackhafte Würze schenken. Da steht ein Mann wild winkend an der Straße und ruft: „Brat“ zu uns herüber. Mit „Bruder“ spricht man hier jeden an, wenn man dessen Hilfe und Unterstützung braucht. Also helfen wir. Mit seiner fliederfarbenen Kappe und dem dünnen Bart sieht der Mann einem Chinesen schon verdammt ähnlich. Wahrscheinlich sind wir China näher als gedacht. Er bringt ein super dünnes Metall-Seilchen von irgendwoher und knotet es am Leo fest. Ich gehe da mal lieber in Deckung. Denn wie soll dieser Bindfaden halten, wenn wir sein still stehendes Auto einen Berg hoch ziehen? Doch Wunder geschehen hier am laufenden Band und so schafft es Sten den alten Passat auf die Gerade zu schleppen. Männer kommen, die sich bis dahin versteckt gehalten hatten und schütteln uns dankbar die Hände. Wenig später sitzt ein Polizeiposten bei uns im Leo. Auf freier Straße und vor allem vor Ortschaften gibt es hier Polizeikontrollen. Und da unser nächster Ort „Ayagöz“ ein riesiger Militärstützpunkt ist sind hier die Kontrollen umso schärfer, denken wir, während wir rechts an den Straßenrand gewunken werden. Ich hole wie immer die Pässe und Fahrzeugpapiere aus der Tasche und reiche sie Sten, als der Polizist auf uns zusteuert. Doch die Papiere interessieren ihn nicht im Geringsten. Er will ans Lenkrad vom Leo und selber ne Runde fahren. Als er dabei war den Handbremse-Hebel abzuknicken, brechen wir das Abenteuer kurzer Hand ab und bieten ihm an auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, um ein paar Runden zu drehen. Der Polizist ist begeistert, vor allem von all den Kleinigkeiten, die er so im Leo findet. Jeder Schraubenzieher weckt sein größtes Interesse. Am Ende schenken wir ihm ein rotes Base-Cap, welches ihm super steht. Sten hat dafür die Polizeimütze auf dem Kopf. Eigentlich ein absolutes No-Go! Nun, so viel passiert hier oben im Norden wohl nicht. Der aufregende Erlebnispark für aufstrebende Polizeibeamte scheint das Örtchen Ayagöz nicht zu sein. Und rund herum ist außer Nichts noch weniger.
Geburtstagsstimmung / Birthday mood
06.07.2015 Qabanbay / Kasachstan / N45°43’31.4“ E080°18’23.8“
Der Präsident hat Geburtstag und alle feiern mit. Zumindest ein klein wenig. Zumindest hätten alle die Chance. Denn Präsidentengeburtstag ist gleich Feiertag für alle. Außer die Straßenbauarbeiter, die schuften unermüdlich daran, den Traum von einer durchgängigen Straße durch ganz Kasachstan zu verwirklichen. Vielleicht ist es auch ihr Geschenk an den Präsidenten? Doch der fliegt bestimmt, wenn er Kasachstan besichtigen möchte und holt sich keine Gehirnerschütterung auf den Pisten seines Landes. Ein Wahnsinns-Unterfangen in dieser Unendlichkeit zu hoffen, dass man irgendwann an seinem Ziel ankommen könnte. Beim Fahren schon kaum vorstellbar. Wie ist es dann erst als Straßenarbeiter? Lebenswerke werden hier geschaffen. Ohne Frage. So richtig in Feierstimmung wollen wir nur einfach nicht kommen. Noch hängen wir der Zeit in Almaty nach und haben gut damit zu tun uns wieder einzulassen auf die Unwegbarkeiten unserer Strecke. Die Landschaft macht es uns leicht. Ihr bizarrstes Gelb hat sie aufgetragen, freundliche Hügel drapiert und am Horizont die Fünftausender an der Grenze zu China ausgezeichnet ins Licht gesetzt. Das Land schaut freundlich zu uns herein. Also schauen wir genau so zum Land hinaus. Zwei Motoradfahrer überholen uns. Der Eine aus Heilbronn, der andere aus Braunschweig. Eine Stunde später überholen sie uns wie durch ein Wunder erneut. Als wir sie das dritte Mal sehen, während sie gerade Obst am Straßenrand einkaufen, deuten wir das als ein Zeichen und halten ebenfalls an. Keine drei Sätze später sind wir uns darüber einig, den Abend miteinander verbringen zu wollen. Schnell bilden wir eine Kolonne der Ungleichen. Wir, groß und langsam. Die Beiden, klein und schnell. Doch mitunter ziehen sich Gegensätze ja an und haben ihren Spaß miteinander. Unser Camp schlagen wir im Gelb der Steppengrashügel auf und fügen uns als Kontrasttupfer hinzu. Zu erzählen haben wir uns eine Menge. Das Woher, Wohin des ähnlich Erlebten lässt uns an diesem Abend komplett miteinander verschmelzen. Die Nacht bricht herein. Eine Sternschnuppe zeigt mir ihren Schweif und die Milchstraße gibt ein Straßenkonzert der Superlative. Denn alle, alle Sterne scheinen gekommen zu sein.
Und so wird es doch noch was mit unserer Feierstimmung. Auf den Präsidenten! Auf Kasachstan!
Zwei Seelen / Two souls
05.07.2015 Saryözek / Kasachstan / N44°15’49.2“ E077°51’16.3“
Wir rollen wieder, auf der Piste, dem Sonnenuntergang entgegen. Licht im Gesicht und neue Bekanntschaften im Herzen. Im Hals ist es eng. Im Bauch kreiseln die Erinnerungen. Unsere Zeit in Almaty liegt hinter uns. Eine gute Zeit! Auch wenn das Warten an allen Tagen eine Komponente war, haben wir die Zeit hier im Südosten Kasachstans unglaublich geliebt, genossen und gelebt. Jörg Hetsch half uns an unserem ersten Tag bei der Registrierung in Kasachstan und war immer wieder Teil unserer Gespräche.
Mit Aigul haben wir Beschparmak gekocht und eine Nacht lang über Gott und die Welt geredet. Mit Roman, Irina und Agatha waren wir in einem Camp in den Bergen, haben in ihrer Datscha Outdoor-Plow gekocht, sind zusammen schwimmen gewesen und haben einen genialen Abend am großen Almaty-See miteinander verbracht. Roman hat uns geholfen, die zwei neuen Reifen aus Russland zu besorgen. Wir haben uns bei ihnen wohl gefühlt und ihre Nähe aufgesogen. Igor lud uns fast an jedem Morgen zum Tee in sein Büro ein. Es war ein sonniger Tagesbeginn. Sein Auto fuhr vor und kurz darauf hörten wir seinen Satz in lustigem Deutsch: „Kommen Sie. Tee trinken.“ Sascha, einer seiner Söhne zeigte uns sein neu eröffnetes Schaschlik-Restaurant „Die Datscha“. Sein Bruder Sergey ist der Betreiber zweier Edel- Restaurants in den Bergen, einer Chill-Bar im Stadtzentrum und dem „Ray-Pool-Club“. Er lag direkt neben unserer MAN Werkstatt. Über all die Wochen genossen wir freien Eintritt, hatten Zeit zum Nachdenken, Schreiben und Beieinandersein. Der Club war neu eröffnet als wir kamen. Über Tage hinweg waren wir die einzigen Gäste und Sergey freute sich, dass wir da waren. Wir gaben ihm ein hoffnungsvolles Gefühl. Am Ende unserer Zeit hier war der Pool-Club so gut besucht, so dass keine einzige Liege mehr frei war und wir uns ein Stück Wiese suchten. Hat offensichtlich geklappt, mit den guten Wünschen für Sergeys neues Projekt. Mit Tousif, unserem indischen Freund haben wir zusammen gekocht und unendlich lange Gespräche über Sinn, Schicksal und den Gang des Lebens geführt. Wenn er kam, waren wir Minuten später mitten drin in einer tiefen Unterhaltung. Dima, unser Lieblings-Sushi-Koch, hat ein so wunderschönes Lachen. Und über die Liebe reden, geht mit ihm besonders gut. Wir hoffen für ihn, dass er seine Liebe findet, irgendwo auf der Welt. Alwi, der die deutsche Sprache liebt und uns in sein Tschetschenisches Haus einlud, wird uns noch lange gedanklich bewegen. Und Yuliya mit ihrem Mann Marat haben wir eine ganz besondere Nische in uns eingeräumt. Ohne Yuliyas Hilfe wäre mit dem Getriebe in Almaty nichts vorwärts gegangen. Mutig hat sie versucht, irgendeinen Weg zu finden, wenn alle anderen gesagt haben: „Das kann niemals klappen.“ Sie hat uns mit zu Marats Familie genommen. Dort lernten wir eine Jurte aufzubauen und erlebten, wie ein Schaf geschlachtet wird. Fröhliche Abende haben wir mit Marat und Yuliya verbracht. Den Whiskey hätte es zur Freude nicht gebraucht doch er war sagenhaft lecker. Vasyl, der stille, geniale Koch aus der Ukraine, Marats Onkel, der Künstler, Sergey, unser Technik Mann bei MAN, unser Broker, sein Mitarbeiter, ein Taxifahrer, der uns im Leo besucht hat, die Sicherheitsmänner, die uns immer wieder den Hintereingang zum Pool öffneten und so viele weitere Begegnungen sind bunte, leuchtende Puzzlesteine unserer Tage in Almaty.
So klingen zwei Seelen in meiner Brust. Die eine möchte einfach nicht Abschied nehmen und die andere freut sich darauf, weiter zu ziehen.
So rollen wir dem Sonnenuntergang entgegen. Hängen unseren Gedanken nach und sind gespannt auf das was vor uns liegt.
Am seidenen Faden / Hanging by a Thread
04.07.2015 Grenze / Kasachstan/Kirgistan / N43°15’0.78“ E074°49’16.9“
Wer glaubt, dass wir in Deutschland komplizierte und langwierige Prozesse haben wenn es um Auslandslieferungen oder ähnliche, nicht alltägliche Vorgänge geht, der war möglicherweise noch nicht in Zentralasien. Mein eigenes Bild hat sich auf jeden Fall gewandelt. Ich bin mir sicher, dass ich auch in Zukunft Kompliziertes mit dem in Verbindung bringen werde, was ich hier erlebt habe. Es wird immer die Frage sein: „Ist es tatsächlich so wild, so schwierig wie wir meinen?“ Nur, weil uns die Vergleiche fehlen... Meine eigenen Relationen haben sich definitiv verschoben. Ein für alle mal und wohl unumkehrbar. Unsere Aufgabe hieß: Dreihundert Kilometer zurück fahren, an die kasachisch-kirgisische Grenze nach Ak-Schol/Korday. Die erste Tour mit „Oli“ übrigens. Dort mit unglaublich vielen Urlaubswilligen mitten in der Nacht versuchen aus Kasachstan auszureisen. Doch nicht, um nach Kirgistan zu reisen, sondern innerhalb der Grenze umzukehren und nach Kasachstan zurück zu fahren. Dabei hatten wir auf diverse Papiere wichtige blaue Stempel und Unterschriften setzen zu lassen, um diese anschließend nach Almaty zurück zu bringen. Das alles während Ramadan ist, die Leute unleidig sind und die Hitze, die auch in der Nacht noch 34 Grad beträgt, träge und arbeitsunwillig macht. Das war unsere Mission. Das war die Challenge. Ich gebe gerne zu, dass es mir im Bauch rumorte, ich mir nicht vorstellen konnte, wie das funktionieren soll, wenn es doch sonst schon schwierig ist an den Grenzen klar zu kommen. Und dann noch mit so eigenwilligen Vorstellungen und Anforderungen. Mit weichen Knien kamen wir nachts um 23.00Uhr an der Grenze an. Die Fahrt aus Almaty heraus war schon die erste Hürde. 1,5 Millionen Menschen schienen gleichzeitig die Stadt verlassen zu wollen, da ein verlängertes Wochenende anstand. Zwei Stunden brauchten wir allein um die fünfzehn Kilometer aus der Stadt heraus zu kommen. Als das geschafft war, zuckelten wir in einer Dauerschlange Richtung Grenze. So waren wir beide müde als wir endlich da waren. Wussten aber, das es nun erst los gehen würde. Was, das wussten wir nicht.
Wir hatten eine Telefonnummer von einem Diensthabenden des Zolls. Doch ob der nun Lust haben würde uns mitten in der Nacht noch irgendwie zu helfen? Wir wählten seine Nummer. Der Mann namens „Erik“ ging ans Telefon sprach jedoch nur Russisch. Hm, das Gespräch war somit sehr schnell beendet. Und nun? Unser Handy klingelte und ein anderer Mann meldete sich. Er sei beauftragt uns zu helfen. Auch er sprach nur Russisch, doch es war ein Lichtblick für uns. Denn wir standen inzwischen, eingekeilt von haufenweise anderen Fahrzeugen, in der Megaschlange. Da gab es kein vor und zurück. Doch wir staken aus der Masse heraus. Der Mann vom Zoll erkannte unseren Leo von weitem und kam zu uns. Er wolle uns helfen, bestätigte er noch einmal. Yuliya, unsere gute Seele von MAN in Almaty, hielt sich die ganze Nacht zum Erklären und Dolmetschen bereit. Sie besprach mit dem Zoll-Menschen, dass wir das Getriebe vom Zoll an der Grenze begutachten lassen müssten, das Alte und das Neue. Diese Ausfuhr müsse dann bestätigt werden. Auch wir brauchten Ausreisestempel, da unser Visum abgelaufen war und mussten eine erneute Einreise genehmigt bekommen. Yuliya erklärte weiter, dass dieser Vorgang nur an dieser Grenze ginge, weil wir nur hier die Zollunion verlassen konnten, was wiederum für den wichtigen blauen Stempel entscheidend war. An der russischen Grenze ist das nicht möglich, da Russland zu dem Zusammenschluss gehört und die Mongolei hat keine derartige Zolleinrichtung. Der Mann war ein wenig stolz, als er all das hörte. Das wiederum war unser Vorteil. Denn er verstand, dass er wichtig für uns ist. Wir ließen ihn gern aus dieser Position heraus agieren, wenn er uns nur helfen konnte.
Irgendwie schaffte er es, dass alle Fahrzeuge zurück fuhren, um uns aus dem extremen Knäuel zu befreien. Denn wir mussten zu einem anderen Grenzübergang, nach Tschon-Kapka fahren. Er begleitete uns in Eskorte zum etwa 20km entfernten Übergang für LKWs und Reisebusse. Viele Leute rechts und links des Weges grüßten und buckelten vor ihm, während wir mit ihm unterwegs waren. Er muss ein „hohes Tier“ sein, schlossen wir daraus. Uns sollte es mehr als recht sein! Neue Grenze, andere Leute. Unser Mann übergab uns an einen Uniformierten. Und Yuliya erklärte per Telefon auch ihm den gesamten Vorgang. Denn Englisch sprach niemand. So hatten wir zeitweise eine Standleitung nach Almaty zu Yuliya, da immerzu neue Fragen und Probleme aufkamen. Doch auch dieser Uniformierte versprach uns zu helfen. Für uns begann mit ihm das große Rennen wie in einem Stationen-Park. Alles auf Tempo ausgerichtet, keine Stelle durfte ausgelassen werden. Um das Spiel zu erschweren, waren an allen Fenstern und Schaltern Leute eingesetzt, die erst einmal „NEIN“ sagten. Jede Station eine neue Hürde. Immer wieder hing für uns alles am seidenen Faden. So viele Leute mussten mitspielen in einem Spiel von dem sie nichts hatten. Da waren zwei Ausländer, mitten in der Nacht mit einem Getriebe. Na und, was ging es diese Leute an? Yuliya drohte abwechselnd, mit Beschwerden bei der Botschaft, mit Berichten, die wir angeblich über Kasachstan liefern würden, wenn uns nicht geholfen werden würde. Internationale Verwicklungen... Wir mussten schon lachen. Doch es half. Wir kamen voran.
Stempel auf einem Blatt sammelnd, den Leo checken lassend von der Grenzpolizei, vom Zoll und wer sonst noch wollte. Ausreisestempel in unsere Pässe mussten gedrückt werden und dann kam die große Frage, ob es klappen könnte, dass es uns erspart bliebe, erst nach Kirgistan einzureisen. Denn das würde heißen, dass niemand für uns einstehen könnte. Doch das Wunder geschah und unser Uniformierter schaffte es, dass wir vor dem letzten Schlagbaum wenden konnten und nun auf der Einreisespur standen. Wir waren fassungslos vor Freude! Quarantäne Untersuchung, denn wir kamen ja quasi aus Kirgistan, den Leo röntgen lassen, denn wir kamen ja quasi aus Kirgistan, die gleichen Checks am Leo mit Blick in, auf, unter den Leo, wie zwei Stunden zuvor und von den gleichen Leuten, denn wir kamen ja quasi aus Kirgistan. Wieder hatten wir unseren Stempelsammellaufzettel. Jedes Kästchen wollte ausgefüllt werden. Auch wir reisten ein, was Stempel in unseren Pässen bezeugten. Und dann? Dann war es 4.10Uhr am Morgen, die Sonne ging bereits auf und unser Uniformierter reichte uns die „Super-Wichtig- Zettel“, die unser Broker in Almaty benötigte. Ohne die wäre die ganze Aktion sinnlos gewesen. Wir konnten es nicht glauben, sahen uns fassungslos an und waren erleichtert und glücklich. Wir hatten es geschafft! Dankten von Herzen unseren Helfern an der Grenze für ihre VIP-Behandlung und vor allem Yuliya, die die ganze Zeit für und mit uns wach blieb. Wir waren uns nicht sicher, ob es ein Traum war oder Realität. Doch da wir beide das Gleiche geträumt zu haben schienen, entschieden wir uns dafür, dass es real war und schliefen um 5 Uhr auf einem Feld in Kasachstan ein. Dass die Vögel bereits sangen bemerkten wir nur noch von weitem.
Ich heiße Oli / My name is Oli
03.07.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Ja das bin ich. Oli. Wie ich zu meinem Namen kam, weiß ich nicht genau. Er war plötzlich in der Luft und allen, die um mich herum standen war klar, dass ich so heißen müsse. Nun, warum nicht? Vorher war ich nur eine nichtssagende Nummer. Jetzt trage ich einen Namen! Ich bin mir darüber bewusst, dass das auch Einiges mit sich bringt. Ich kann mich nicht hinter meiner Bedeutungslosigkeit verstecken. Ich werde bei meinem Namen gerufen. Die Leute sprechen über mich. Ich habe gehört, dass der Leo lange auf mich gewartet hat. Nun, da war ich ja auch gespannt, was das wohl für einer ist. Für wen ich diese weite Reise in Kauf genommen habe? In Trier hatte ich es lange gut. Ich lag in einem Lagerregal und es war kaum damit zu rechnen, dass mich mal jemand brauchen würde. Es war nicht so toll für mich, das Rumliegen. Ich hatte mich damit abgefunden. Bis eines Tages im März Leute kamen und etwas suchten. Ich döste vor mich hin, konnte ja nicht gemeint sein. Doch plötzlich blendete mich Taschenlampenlicht. Männer redeten irgendwelches Zeug. Ich verstand nichts. Nur ein Wort hörte ich immer wieder: „Kasachstan“. Ich konnte nichts damit anfangen, mir nichts darunter vorstellen. So blieb mir dieses Wort ein Rätsel. Für mich begann eine unglaublich spannende Zeit. In Trier wurde ich verpackt, in schwarzer Folie. Nun, das war nicht ganz so angenehm. Doch ich wollte mich nicht beschweren, wenn sich schon einmal was bewegte, in meinem Dasein als Ersatzteil. Von Trier aus kam ich mit einem Transport nach Tschechien. Dort war erst mal wieder Pause und ich fürchtete schon, dass es das gewesen sein könnte. Doch zwei Wochen später kam wieder Bewegung auf und ich wurde erneut verladen. Dann wurde es spannend. Die Straßen waren offensichtlich sehr holperig. Jedenfalls hat es mich ziemlich durchgeschüttelt. Da war ich schon froh auf einer Holz-Palette festgebunden zu sein. Denn es ging durch Polen, Weißrussland, Russland. Und dann kam das Land, dessen Name mir lange ein Rätsel war: „Kasachstan“. An den Grenzen standen wir lange mit dem LKW. Die Fahrt war beschwerlich. Doch alles roch für mich nach Abenteuer. Zumal ich schon in Trier gehört hatte, dass dieser Leo eine Asientour fährt und zwei Leute an Bord hat. Das klang für mich verlockend. In Kasachstan landete ich dann wieder in einem Lager. Oh. In diesen Tagen ging es mir nicht gut. Ich hatte das Gefühl gestrandet zu sein. In dem dunklen, stickigen Lager war es nicht wirklich schön. Hatte man mich vergessen? War alles nur ein Traum gewesen? Dann kam die Erlösung. Mich holten drei lachende Leute ab, die sich offensichtlich sehr über mich freuten. Dann ging alles super schnell. Verladen, auspacken, anmontieren. Seit heute hänge ich nun am Leo. Wir verstanden uns auf Anhieb. Und ja, ich werde alles tun, dass diese Reise weiter gehen kann. Würde mir ja nur selbst schaden, wenn ich nicht mitspiele. Nein, ich will die Mongolei sehen! Hammer. Was im Leben alles werden kann. Da kommen mir doch glatt vor lauter Freude ein paar Öltränen...
Hinter der Membran / Behind the membrane
02.07.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Alles ist dumpf. Jeder Ton, jede Bewegung verlangsamt. Gezeichnet von Verzerrung im Klang. Verstehen, geht nicht. Ich versuche zu lesen, in den Gesten, an der Haltung. Stimmen gewandelt in Sprache. Unverständlich. Falsche Geschwindigkeit des Plattenspielers. Weit weg. Ich stehe hinter der Membran. Nicht in der Lage zu kommunizieren, bin Zuschauer in meinem eigenen Leben. Vor mir die Wand. Dann lange nichts. Weit entfernt. Dort Gestalten mit fragenden Gesichtern. Münder gehen auf und zu. Ratlosigkeit. Körpersprache sagt alles.
Sieben Uhr waren wir mit Yuliya verabredet, um zur Fahrzeugmeldestelle Almatys zu fahren. Dort gibt es auch ein Büro, welches sich mit Zollangelegenheiten befasst. 7.30 Uhr stehen wir auf dem Parkplatz vor dem fahnengeschmückten Gebäude. Unser Helfer aus dem Broker Büro ist mit uns. 8.00 Uhr öffnen sich die Gebäudeschwingtüren. Ach nein, Irrtum. Heute erst eine Stunde später. Macht nichts. 9.00 Uhr stürmen mit uns Massen von Anmeldewilligen das Gebäude. Unser Büro liegt unterm Dach. Dort will keiner mehr hin. Vollkommene Stille. Es sprechen ausschließlich drei kleine weiße Zettel mit uns. Der Mann hinter der Tür ist nicht da. Warten. Als er kommt, ist mir klar, dass mit ihm nicht viel gehen wird. Die Lustlosigkeit schwitzt ihm aus jeder Pore. Er müsste mutig sein, flexibel handeln und unkonventionell entscheiden. Doch warum sollte er? Er ist Behörde. Selbst als sein Oberboss ihn anweist, eine Lösung zu finden, ist er nicht bereit dazu. Das Problem: Es gibt ausschließlich ein Formular des Zolls, welches gegen Bezahlung der Steuer ermöglicht, die Ware auszulösen. Es gibt aber auch ein Gesetz welches sagt, dass wir nichts zu zahlen haben, da wir das gute Stück nur als Durchreisende Ein- und wieder Aus-Führen. Hm, diesen Fall hatte hier noch niemand. Wir wären die Ersten, wird uns immer wieder gesagt. Und da wisse man nicht, was zu tun sei. Irgendwann gehen wir, einen jungen IT-Mann im Schlepptau. Neue Anlaufstelle. Neue Hoffnung. Auch hier lässt sich das System nicht überrumpeln. Doch man versucht es wenigstens.
Wenig später die mutige Entscheidung, alles per Hand auszufüllen und das System sich selbst zu überlassen. Unfassbar. Unglaublich. Unheimlich. Un..., Un..., Un...
Wir halten DAS Papier in Händen. Nachmittags um 16 Uhr stehen wir vor dem Warenlager des Zolls. „Hey, wir sind es. Gebt uns das Getriebe!“ wollen wir rufen. Gut, so schnell geht’s dann doch nicht. Zettel, Zettelchen, Schreiben, Unterlagen. Alles will seine Ordnung haben. Wir bleiben ruhig auf der Zielgeraden. Es wird geschrieben, kopiert, Papier gerissen, abgeheftet, nachgefragt, wieder geschrieben, telefoniert, gewartet.
Und dann? Der große Moment. Unser Verteilergetriebe wird aus dem Dunkel ans Licht gebracht. Ein Leuchten umfängt das gute Stück. Ausgesendet von unseren Augen.
Irgendwie sind wir zu erschöpft, um Luftsprünge zu machen. Doch für nen kleiner Hopser reicht unsere Kraft.
Morgen wird montiert. Und dann haben wir es eilig. Am 04. Juli läuft wieder einmal unser Visum aus...
Und die Membran? Die haben wir mit Yuliyas Hilfe durchstoßen! Das hat nen Knall gegeben!
Stempelkasten / Stamp box
01.07.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
„Seid ihr am Truck?“ war die Frage, die uns auf dem Handy heute morgen begrüßte. „Na klar.“ War unsere spontane Antwort. Yuliya hatte den Gedanken, dass es doch gut wäre, wenn wir die im Lager abgestempelten Papiere zum Broker bringen würden. Ehe die dort lange liegen...
Da waren wir aber mal gleich dabei! Lieferservice spielen ist besser als zusehen zu müssen, wie sich das Papier von allein einfach nicht von A nach B bewegen will.
Sergey, neben Yuliya unser zweiter Kontaktmann bei MAN, fährt mit uns. Vor einem im Halbschatten stehenden Haus aus lang verflossenen Sowjettagen machen wir Halt. Am Eingang stehen drei Frauen und rauchen. Ein Bild, welches so überall hätte sein können. Die morschen Treppen danach schon wieder nicht. Die sind einzig. Ein langer dunkler Gang heißt uns nicht gerade willkommen, doch lässt er uns gewähren. So nah waren wir unserem Getriebe noch nie! Wir sind im Verwaltungsgebäude des Lagers, in welchem es irgendwo liegen soll. Wir rufen, doch es antwortet nicht. Leider.
Wenigstens lässt sich eine der schwarz gestrichenen Eisentüren öffnen und dahinter findet sich sogar eine Frau. Obendrein schickt sie uns nicht weg, sondern hat einen Stapel Papier vor sich liegen. Unser Stapel. Haufenweise abgestempelte Zettel. Rote Stempel, blaue Stempel, schwarze Stempel. Runde, Ovale, Quadratische oder auch Pyramidenförmige sind dabei. „Da hat aber mal jemand seinen Stempelkasten bemüht.“, schießt es mir durchs Hirn. Die Papiere sind weit gereist. Manche kommen aus Deutschland. Andere sind unterwegs dazu gekommen. Auf vielen Schreibtischen haben sie gelegen. Alle zusammen.
Das Büro in dem wir stehen. Auch das könnte überall sein. Ein paar wenig beachtete Büropflanzen trocknen vor sich hin. Ordner harren dem Augenblick, an dem sie aus dem Regal genommen werden. Büroidylle vom Feinsten. Wir sehen und gehen.
Auf zum Broker. Anderer Stadtteil, moderneres Gebäude. Wieder lange Gänge. Verschlossene Türen. Eine geht auf. Für uns. Ja, das seien einige der Papiere, wird uns bestätigt. Auf einem davon darf Sten auch unterschreiben. Ein wichtiges Schreiben sei allerdings noch nicht dabei. Darauf müssten wir weiter warten, heißt es. Was es bewirken soll, erschließt sich mir nicht vollends. Ist ja irgendwie auch egal. Eins verstehe ich ganz eindeutig. Das war noch lange nicht alles.
„Saftra“, das meist bemühte Wort. „Morgen“. Dann sehen wir weiter...
Noch einen Schluck / Yet a drink
30.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Feste feiern wie sie fallen. Und wenn nichts zu feiern ist, tun wir es trotzdem. Es geht uns gut. Wir könnten es weitaus schlechter treffen. Wir sind umgeben von Menschen, die uns zugetan sind. Wir haben uns. Wir erfahren täglich ein wenig mehr. Nicht zuletzt über uns selbst. Wer sagt denn, dass Reisen immer im räumlichen Vorankommen besteht? Wir wussten, dass uns Unvorhergesehenes ereilen wird. Wir ahnten nicht im Geringsten was es sein könnte. Eben unvorhersehbar im wortwörtlichsten aller Sinne. Im Machen, Tun und Entscheiden sind wir gut. Im Lassen, im Zusehen und Abwarten ist es noch ein Stückchen bis zur Meisterklasse. Der oft bemühte Satz: „Wir leben vorwärts und verstehen rückwärts.“ bekommt in diesen Breiten einen vollkommen neuen Sinngehalt für mich. Ich schaue gerade auf mein Handtuch und sehe Schlaufe für Schlaufe und Falten, die wie Wege sind. Jede Schlaufe eine eigene Erfahrung, jede Falte eine Möglichkeit. Und eine Entscheidung, die vielleicht an ganz anderer Stelle gefällt wird. In der Natur draußen meinen wir das allmählich zu begreifen. Bei den vermeintlich irdischen Dingen, wie einer Zollauslieferung, verfallen wir offensichtlich schnell in unseren „Da geht doch was.“ Modus. Ein Freund schrieb heute: „This country has its own rules.“ So ist es. Also gönnen wir uns noch einen Schluck der leckeren Minze-Limonade und beobachten was geschieht. Denn wie sagen die Buddhisten? „Alles kommt im richtigen Moment zu dir.“
In diesem Sinne „Prost!“.
Wie lange ist lang? / How long it’s long?
29.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Am 28. April war uns klar dass wir mit der gerade eingebauten Zwischenlösung im Verteilergetriebe nicht weit kommen würden. Am 01. Mai begannen wir umher zu telefonieren. Auf der Suche nach einer Lösung, die es uns möglich machen sollte, unsere Fahrt fortzusetzen, ohne dass am Ende der Motor auch noch kaputt ginge. Da die nicht passende Zähne Anzahl im nun eingebauten Getriebe alles in Mitleidenschaft zog und der Leo wie ein Herzpatient an jedem noch so kleinen Hügel streikte. Uns war klar: „So wie er momentan fährt, gelangen wir mit ihm nicht bis nach Singapur.“ Weder kommen wir so durch Kirgistan, noch durch das Altai Gebirge, geschweige denn die Mongolei oder gar über die bergigen Strecken in China.
Mit Hilfe von Hans, Stens Vater, und Herrn Langemann, dem Chef der MAN Werkstatt in Jena, fanden wir übers Internet tatsächlich ein einziges Getriebe welches in unseren Leo zu passen schien. Also wir hoffen das ganz sehr!!!! Derartige Ersatzteile sind inzwischen besondere Fundstücke, da unser Leo nicht mehr der Jüngste ist und die Teile für ihn nicht mehr produziert werden.
Unsere Route mussten wir ändern, Länder auf unserem Weg wegfallen lassen, uns um neue und veränderte Visa kümmern. Wir sind auf Reisen. Da müssen wir mit allem rechnen. Das ist uns klar.
Das war Anfang Mai. Wir waren zuversichtlich, dass das Getriebe innerhalb der nächsten Wochen seine Wege nehmen würde.
Parallel zu allem was wir erlebten, war das Thema „Getriebe“ für uns allgegenwärtig.
Auf dem kürzesten und einfachsten Weg machten wir uns auf den Weg nach Almaty, da zwischen Deutschland und Kasachstan eine offizielle MAN-Vertriebsbeziehung bestand. Diese zu nutzen war die einzig gangbare Möglichkeit, um das Getriebe von Deutschland in die Region zu befördern.
Auf dem Landweg sollte das geschehen. Allein der Prozess in Deutschland war lang, aufwändig, kurvenreich und überraschend. Doch Hans gab sein Bestes, uns auf dem Laufenden zu halten und die notwendigen Schritte ins Laufen zu bringen.
Wir flogen derweil nach Kirgistan, da unser Kasachstan Visum ausgelaufen war. Zurück in Almaty gingen wir davon aus, dass es sich nun nur noch um wenige Tage handeln könne, bis das Getriebe in der Stadt und wenig später an unserem Leo zu finden sei.
Wir genossen die Tage in Ruhe verbringen zu können, schwammen im Pool, der gleich neben der MAN Werkstatt sein Domizil aufgeschlagen hatte, lernten Einheimische kennen, verbrachten unsere Zeit mit ihnen, machten zwischendurch mal krank und wurden auch wieder gesund.
Das Getriebe, es kam näher und näher. Bis es dann vor zehn Tagen tatsächlich Almaty erreichte. Wir freuten uns, doch hatten gelernt, es verhalten zu tun. Denn wer weiß...?
Yuliya, unsere gute Seele hier bei MAN, die es momentan alles andere als leicht hat in der eigenen Firma, da gerade ein Eigentümerwechsel von Deutschen zu Usbeken statt findet, mühte sich täglich für uns. Wir wussten und wissen, dass sie uns hilft, in diesem Dschungel irgendwie ans Licht zu gelangen. Täglich telefoniert sie mehrmals mit dem Broker, den sie extra für uns gefunden hat. Und der wichtig ist, um beim Zoll überhaupt Gehör zu finden. Spricht mit den Leuten an der usbekisch-kasachischen Grenze, die wir im Mai passierten und die es damals versäumten, uns einen Stempel zu geben, der uns bescheinigte, rechtmäßig mit unserem LKW in Kasachstan zu sein. Wir lernten am vergangenen Freitag dass wir illegal mit unserem Leo im Land sind, dieser konfisziert werden müsse, und so die Probleme eine ganz neue Form der Eskalation bekämen. Nur Yuliya haben wir es zu verdanken, dass wir im Nachhinein nun dieses überaus wichtige Papier in Händen halten. Momentan wartet der Broker auf Antwort vom Zoll was als Nächstes zu tun ist. Doch Behörden haben hier eine vollkommen andere Ausprägung der Mentalität des Aussitzens, als wir es aus Deutschland gewohnt sind. Und da denken wir uns schon manchmal...
Zeit scheint hier einfach überhaupt keine Rolle zu spielen.
Vor unserer Abfahrt sagte ein guter Freund zu uns: „Im Westen hat man die Uhren. Im Osten die Zeit.“
Wir sind uns absolut darüber bewusst, dass wir in den vergangenen sechs Monaten viel über uns gelernt haben, was unsere innere Unruhe und deren Ursachen anbelangt. Wir sind gelassener geworden, haben gelernt, dass Dinge ihr ganz eigenes Zeitempfinden haben und wir nur mittelbar Einfluss nehmen können. Yuliya klärt uns fast täglich über die Mentalität ihrer Landsleute auf und wir begreifen es als Chance, an genau dem Ort, an den es uns hier gespült hat, zu lernen, zu erfahren, zu erleben und auch ein Stück weit zu verstehen. Uns und überhaupt.
Doch vielleicht stehen wir mit alldem auch noch vollkommen am Anfang?
Und das Getriebe? Das liegt nach wie vor beim Zoll. Nicht weit von hier, doch zu weit für uns.
Hintereingang zum Paradies / Rear entrance to the paradise
28.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Sprung ins Wasser. Befreiend, abkühlend, den Kreislauf auf Touren bringend. Danach ein paar Übungen für Bauch, Beine, Po. Und vorher?
Badesachen vom Vortag greifen, Fenster verriegeln, Treppe benutzen, Leo abschließen. Der Gang über den Hof. Winken hier, Rufe da. Flip-Flops klappern auf dem Asphalt. Klick-Klack-Klick-Klack. Vier Mal, vier Beine, immer wieder.
An LKWs vorbei, der MAN Werkstatt, in der vielleicht auch unser Leo irgendwann einmal steht. Wer kann das schon so genau sagen...
Eisentor. Das stoppt uns. „Hallo, hallo“ rufen. Den extra bereit gelegten Stein zur Hand nehmen. Damit auf das Geländer trommeln. Warten. Hallo, hallo, hallo, klopfen. Noch einmal und noch einmal. Hört uns jemand? Warten. Jeden Tag der gleiche Zweifel, der sich auflöst durch den schweren Atem des Wachmanns. Er kommt die Treppe herauf um zu öffnen. Vorsicht! Glitschiger Boden. Achtung! Stufen aus Eisenträgern. Musik an? Höre nichts. Ob heute jemand da sein wird? Wir werden sehen. Ein Schritt noch, dann durch die Hecke zum Licht.
Hintereingang zum Paradies.
Azurblau der Himmel, gespiegelt im Pool. Die Unberührtheit lädt ein Wellen zu schlagen. Es gibt kein Halten. Sprung ins Wasser.
Tschetschenischer Abend / Chechen evening
27.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Ganz ruhig steht sie am Küchentisch. Ihre großen dunklen Augen ruhen auf ihrem Mann. Zaremas Augen scheinen zuzuhören was Alwi erzählt. Sie versteht die Worte nicht, doch die Bedeutung wird trotzdem klar. Alwi liebt es, Deutsch zu sprechen. Worte wie „hinzugefügt“, „während dessen“ oder auch die genaue Einhaltung des Genitivs wie in „des Tages“ bereiten ihm einen höllischen Spaß. Jedes Mal, wenn er wieder einen dieser Knaller gestartet hat, kann er hinterher kaum Luft holen vor Lachen. Die Energie wohnt in ihm, auch wenn gerade Ramadan ist und er seit morgens drei Uhr nichts mehr zu sich genommen hat. Jetzt ist es acht Uhr am Abend und seine Frau Zarema ist dabei für uns „Galnasch“ zuzubereiten. Sie ist sehr schön und hat sich obendrein für diesen Abend ganz besonders zurecht gemacht. Das rote Tuch in ihren schwarzen Haaren ist ein genialer Kontrast zu ihren langen Armen und den feingliedrigen Händen. Ich kann meinen Blick nicht von ihr lösen. Mag ihre zaghaften Bewegungen, das minimale Gestenspiel, welches alles vermag auszudrücken. Eine Ruhe geht von ihr aus, die mich in ihren Bann zieht. Alwi und Zarema sind ein tschetschenisches Paar. Seit mehreren Generationen leben ihre Familien in Kasachstan. Ihren Traditionen sind sie auch hier treu geblieben. Sowohl im Leben ihrer eignen Kultur als auch in der Sprache. Innerhalb der Familie wird Tschetschenisch gesprochen. Der Sound ihrer Worte ist fremd für meine Ohren. Am ehesten kann ich ein Gemisch aus arabischen und türkischen Klängen daraus entnehmen. Die Kinder, jedes anders. Die älteste Tochter hilft ihrer Mutter, der große Sohn steht unter dem Artenschutz des Vaters. Die beiden Kleinen machen was ihnen gerade durch den Kopf geht. Vollkommen gelassen nimmt es Zarema hin. Jeder hat hier seine Art zu sein. Wir stehen staunend daneben und fühlen uns einmal mehr in eine andere Welt versetzt. Es ist auf eine eigene Art ruhig, es ist sehr lustig, es ist anders. Alwi genießt, durch uns ein wenig „Welt“ in seinem Haus zu haben. Das spüren wir. Wir im Gegenzug oder besser „Mitzug“ sind selig, in seine Welt eintauchen zu dürfen. Einundzwanzig Uhr geht die Sonne unter. Fastenbrechen ist angesagt! Wir werden gemeinsam mit Alwis Freund und einem Verwandten in das Wohnzimmer geben. Der Tisch ist gedeckt. Ich überblicke nicht sofort, für wie viele Personen er eingedeckt ist und gehe davon aus, dass wir gleich in großer Runde mit dem Essen beginnen werden. Doch Platz nehmen wir zwei, Alwi und die beiden Gäste. Was ist mit Zarema? Was ist mit den Kindern? Sie essen später in der Küche. Kultur ist Kultur. Traditionen sitzen tief.
Zarema, wir danken Dir für Dein liebevolles Zubereiten des Essens, für Deine besondere, ruhige Art. Danke, dass wir Dich und Alwi kennenlernen durften!
Hofkinder / Children of the backyard
26.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Hui ist das lange her, dass ich mit den Kindern aus der Straße hinter den Häusern, zwischen den Gärten oder auf der Straße spielte. Herumgerannt sind wir, versteckt haben wir uns, Hütten bauten wir, Fahrrad sind wir gefahren. Oh, Fahrrad fahren war im Sommer besonders beliebt! Bei uns Kindern und anschließend bei unseren Eltern. Unsere Straße hieß nicht nur umgangssprachlich „Teerstraße“. Nein, sie war auch tatsächlich eine. Was an heißen Sommertagen (die gab es wirklich) dazu führte, dass der Teer durch die Hitze vollkommen aufweichte. Wenn wir dann mit den Fahrrädern, ungeachtet aller Warnungen und Drohungen, mit unseren Rädern losfuhren, kamen wir nicht weit, bis unsere Fahrt sich von allein stoppte. Die Reifen hatten sich innerhalb kürzester Zeit in den Teer gegraben. Sie waren schnell doppelt so breit wie normal, da nun aller Teer an ihnen klebte und sie tiefe Furchen in der Teerstraße hinterließen. Was für ein Spaß! Was für ein Ärger...später zu Hause.
Diese Szenen fallen mir ein, während ich auf unserer Treppe am Leo sitze und Sascha beobachte, wie er mit seinem Fahrrad über den Hof rast. Sascha ist der Sohn eines Schweißers. Sie wohnen in einem der Backsteinhäuser auf dem Hof. Mit Efeu ist es überwuchert. Er kommt zu uns, steht einfach da, schaut uns an. Freut sich, wenn wir ihm Kekse schenken und radelt dann freudig weiter. „Hello“ sagt er inzwischen, wenn er uns trifft und „How are you?“.
So sind wir inzwischen Teil des Hoflebens geworden. Spielen quasi mit Verstecken und rennen um den Leo, machen mit unseren Händen unsere frisch gewaschene Wäsche schmutzig, während wir uns haschen. Kinder eben. Der Pförtner kennt uns aufs Beste, Igor lädt uns allmorgendlich zum Frühstückstee in sein Büro ein, und Sergey, einer seiner fünf Söhne, bezeichnet uns inzwischen als seine Stammgäste am Pool, gleich neben dem Werkstatthof. Igors Söhne haben alle irgendein Business auf dem Hof oder in dessen unmittelbarer Nähe. Eine Firma zum Absaugen von Kloake, ein Mercedesfuhrunternehmen, einen Schischa-Handel, eine LKW Waschstraße, Autowerkstätten, die große Schwimmanlage und Restaurants. Alles „kleines Business“, wie Igor stets beteuert. Zusammen ne ganze Menge. Heute ist es Sascha, nicht der mit dem Fahrrad, sondern der jüngste Sohn Igors, der uns in sein neu eröffnetes Restaurant einlädt. „Die Datscha“ heißt es. In einem gemütlichen Garten kann man da zu angenehmen Preisen die leckersten Schaschliks verspeisen, die wir bisher probieren konnten. Saftig und spannend gewürzt. Hähnchenschaschlik, Lammschaschlik, Entenschaschlik, Kebab. Dazu frische Salate aus Tomaten, Gurken, Dill und Koriander. Saschas Einladung in sein sympathisch kleines Restaurant heitert uns auf. Lenkt es doch ab und verkürzt uns ein wenig die Wartezeit. Gleichzeitig frage ich mich, ob hier inzwischen alle Mitleid mit uns haben, weil wir jeden Tag die gleiche Antwort geben, am Morgen, nach dem Öffnen unserer Tür: „Nein, das Getriebe ist noch immer nicht da. Und ja, wir bleiben einen weiteren Tag.“.
Ein halbes Jahr / A half year
25.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Ich erinnere es noch so unglaublich genau. Der Moment, in dem ich unsere Wohnungstür hinter mir zuzog, mit dem letzten Gepäck die Treppe hinunter zum Leo lief und der Klos in meinem Hals immer dicker wurde. An herunter schlucken war gleich gar nicht zu denken. Der Klos saß dort an diesem 25. Dezember 2014 und sollte sich auch in den darauf folgenden ersten Wochen nicht von der Stelle rühren. Das Abschiednehmen, auf Zeit, fiel mir unglaublich schwer. Ich hatte Angst vor allem Möglichen und Unmöglichen. Auch vor den Veränderungen, die mit mir selbst auf der Reise vor sich gehen könnten. Ich glaube heute sagen zu können, dass die Veränderungen wohl noch größer sein werden, als ich es damals festhaltend befürchtete. Ich kannte nur meinen Alltag, wie ich ihn seit vielen Jahren lebte und liebte. Immer war er, neben dem Zusammensein mit unserer Familie und Freunden, auf irgendeine Weise mit viel Arbeit und voll gestopfter Zeit verbunden. Plötzlich ohne alles dazustehen, was mir bis dahin Normalität und Struktur bedeutete, war mir nicht vorstellbar. Ich hatte keine Ahnung davon was ich bin, wer ich bin, wie ich bin ohne ALLES. Dieser Eindruck des „ohne alles“ begleitete mich eine ganze Weile.
Mal gab es kurze Momente einer Ahnung, doch lange war da einfach nur ein großes Fragezeichen.
Im Januar und Februar dieses Jahres und mehr noch heute sage ich, dass es offensichtlich höchste Zeit war, mich einmal von meinem enorm manifestierten Selbstverständnis zu lösen. Loslassen und loslaufen um zu sehen was geschieht, war alles andere als einfach zu Beginn.
Heute, am 25. Juni 2015 sitzen wir mit unseren Edelstahlgläsern voll Rosé Wein da und können es kaum glauben. Einerseits, dass schon ein halbes Jahr vergangen ist, andererseits, dass erst ein halbes Jahr vergangen ist. Wir beide haben den Eindruck, dass unglaublich viele Dinge in den vergangenen sechs Monaten geschehen sind, im Innen und Außen. In uns, mit uns, durch uns, für uns.
Wir haben keine Ahnung davon, wie die kommenden Wochen und Monate verlaufen werden. Noch weniger wissen wir, als was und wie wir irgendwann nach Hause kommen werden.
Doch eines sagen wir beide in dem Moment, als wir uns mit den Gläsern zuprosten. Es war die richtige Entscheidung, uns auf den Weg zu machen!
Das „ohne alles“ Gefühl existiert nicht mehr.
Als wir endlich angekommen waren auf unserer Reise begann viel Spannendes, Neues, Unentdecktes in uns zum Vorschein zu kommen. Wir hatten nur keine Ahnung davon, damals, am 25. Dezember 2014.
Geduld / Patience
24.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Wie lang ist ein Geduldsfaden? Und wie dick? Wann reißt er? Was passiert wenn er reißt? Und was überhaupt ist ein Geduldsfaden? Ist er gedrillt oder geflochten? Welche Farbe hat er? Und kann er die wechseln? Wie viele von diesen Fäden gibt es? Und wo finde ich sie? Kann man die nachbestellen oder gibt es einen Bausatz dafür? Hat ein Geduldsfaden Gefühle? Und wenn ja, welche? Ist er straff und trotzdem elastisch? Oder baumelt er locker durch die Gegend? Hat der Kinder? Oder ne Oma? Kann der reden? Und hat der Ohren? Geduldfaden, falls es Dich gibt und Du mich jetzt hören kannst. Halte durch! Ticke jetzt nicht aus oder reiße gar! Und an Dich liebes Verteilergetriebe die eindringliche Bitte.
KOMM JETZT ENTLICH! Es reicht. Es ist genug. Wir haben ja verstanden!
Bei Sonnenschein kann ja jeder / With sunshine everybody is able
23.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Innerhalb von fünfzig Kilometern drei verschiedene Arten des Wetters. Wo gibt’s das schon? Offensichtlich sind wir hier, um es zu erleben. Almaty klebt förmlich an den Bergen. Die Häuser in den hinteren Reihen, die Edelvillen, sind denn auch die am Gefährdetsten, wenn die Berge wieder einmal grollen. Und ihre Massen an Steinen, Wasser und Geröll ins Tal schicken. Vielleicht sind die Häuser dort oben so teuer weil sie einen Abenteuer-Aufschlag zahlen? Keine Ahnung.
Die MAN Werkstatt liegt im Norden der Stadt. Dass heißt der Bergseite komplett entgegen gesetzt. Bei 34 Grad und Sonnenschein machen wir uns auf den Weg.
Das Stehen an der Straße, das kennen wir nun gut. Das Warten auf ein Schwarztaxi auch. Doch was anhält ist zu unserer Überraschung heute ein Sammelkleinbus. „Der fährt zum Bahnhof.“, sagt eine Frau, die mit uns einsteigt. Wir wissen zwar nicht wo der Bahnhof ist. Doch alles ist besser als an der staubigen Ausfahrtstraße zu stehen. Alle möglichen Leute sind im Bus versammelt. Von jungen Typen, die wie Studenten aussehen bis hin zur kleinen schrumpeligen Oma ist alles vertreten. Und wir. Wir sitzen mal wieder mittendrin und werden beäugt als kämen wir vom Mond.
Am Bahnhof steigen alle aus. Wir auch. Wissen nicht wo wir sind, haben aber eine Adresse, zu der wir wollen. Leider nur den Straßennamen. Der nützt in Almaty nicht viel, wenn man die Kreuzungsstraße dazu nicht weiß. Denn die Straßen sind ewig lang und nur die Kreuzungen dämmen die Suche ein.
Na gut, wir finden trotzdem einen Mann der mit uns losfährt. Der Rest klärt sich per Telefon. Zweitausend Tenge will der Fahrer von uns haben. Mit sich handeln lässt er nicht. Nun, wir sind in der misslichen Lage nicht zu wissen wie weit es bis zu unserem Ziel ist und zahlen.
Vollgestopft bis oben hin sind die Straßen heute Nachmittag. Ganze zwei Stunden brauchen wir für fünfzehn Kilometer. Es ist der Wahnsinn. Doch wir sehen es als kleines Kammerstück an. Eine Szenerie an der wir vorbeifahren. Drei Unfälle alleine, die nicht ohne sind. Zum Glück trotz Totalschäden alles nur Blech was da kaputt ging und keine Menschen.
Das Gemisch an Moderne und Tradition prallt in dieser Stadt aufeinander wie Gewitterwolken. Sowohl was die Architektur der Stadt betrifft als auch ihre Menschen. Glitzerglas bis zum Himmel hoch, und kleine Katen gleich daneben. Mädchen in high heels und Kleidern die enger und kürzer kaum zu nähen sind, treffen auf muslimische, schwarz eingehüllte Frauen. Alles unter dem Himmel derselben Stadt.
Apropos Himmel. Der war bei unserer Abfahrt vor zwei Stunden noch strahlend blau. Inzwischen regnet es wie aus Zinkeimern, so dass wir die Berge hinter der Stadt kaum noch sehen. v Trotzdem treffen wir Irina und Roman. Und trotzdem fahren wir gemeinsam zum „Großen Almaty See“. Serpentinen winden sich steil an den Bergen entlang. Mir wird übel. Doch ich halte durch. Irgendwann muss das Gekurve ja ein Ende haben, sage ich mir. So knapp unter der Schneegrenze auf knapp 3.000 Metern Höhe. Die Alternative wäre laufen. Bei gutem Wetter mit Sicherheit ein Erlebnis. Doch wir haben uns für Regen, zehn Grad und einbrechende Dunkelheit entschieden.
Und ganz plötzlich taucht er hinter einer Kurve auf. Der azurblau glitzernde Bergsee. Auf dessen Oberfläche ein Lichterspiel aus Millionen von Farben seinen Spaß hat. Die weißen Kuppen der umliegenden Berge spiegeln sich bis auf den Grund des Trinkwassersees, der für große Teile Almatys das Wasser liefert. Verzückung stellt sich ein im gleißenden Licht der Abendsonne. Doch all das erleben wir leider heute nicht. Etwas unscheinbar liegt der nur halb gefüllte See mattgrün in seinem Bett. Ein kleiner Rinnsal aus den Bergen speist ihn. Es plätschert. Doch das ist der Regen, der auf die Uniformen der Soldaten tropft. Sie stehen hier oben Wache, nah der kirgisischen Grenze.
Wir genießen unser Picknick unterm Autodach gemeinsam mit Roman, Irina und Agatha.
Bei schönem Wetter kann das hier ja jeder.
Leo trägt jetzt Flip-Flops / Now he carries flip flops
22.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Er hat es nicht immer leicht.
Unser Leo. Die Beläge der Pisten, wenn denn welche existieren, sind schroff, steinig, spitz. In jedem Fall eine echte Herausforderung für unsere Reifen. Zwei Neue hatten wir vor unserer Abreise in Deutschland noch aufziehen lassen. Dann ging es los. Das große Rollen. Zwanzigtausend Kilometer sind wir in den letzten sechs Monaten gefahren. Der Leo liegt uns seit einer Weile in den Ohren. Er will zwei neue Schuhe haben. Modisch sollen sie sein, praktisch, ein gutes Profil, zu den anderen beiden Schuhen und zur Saison passend und nicht so warm. Na gut, dachten wir uns. Schließlich sollen sie bis Singapur durchhalten. Dann bekommt er jetzt auch Flip-Flops. Warum sollen die denn auch nur wir tragen dürfen? Ist wirklich unfair.
Heute war es so weit. Seine Wunschmodelle sind angekommen!
Also haben wir uns auf den Weg gemacht, um sie zu holen. Das Gewühl durch die Stadt war nicht einfach. Doch ein Engel hatte urplötzlich einen Lieferwagen vor uns in die Autoschlage gesetzt, welches das Logo des „Flip-Flop-Ladens“ auf der Laderampe stehen hatte. Wir dachten uns, das ist ein Zeichen, sind ihm gefolgt und tatsächlich an unserem Ziel angekommen. Wieder so ein „Wow“ Moment. Und da standen sie. Volles neues Profil. Schwarz, breit, Michelin. Auch die Größe passte. Aus Russland haben wir sie anliefern lassen. Ist uns doch für den Leo kein Weg zu weit. Leo hat seine alten vorderen Schuhe schnell ausgezogen und ist fix in die neuen geschlüpft. Passen wie angegossen. Leo, unsere kleine Diva. Da steht er nun mit seinen zwei nagelneuen Michelin Reifen. Nun noch das Verteilergetriebe und dann sollte ihn ja wohl kaum noch etwas aufhalten können. Auf seinem, auf unserem Weg nach Singapur...
Sonntag gibt es überall / Sunday there is everywhere
21.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Irina und Roman sind uns liebe Freunde geworden. Sie geben uns ein wenig das Gefühl von Familie, von dazu gehören. Gemeinsam am Abendbrottisch sitzen. Über den Tag reden. Wir sind Gäste und doch näher gerückt. Das gibt uns Halt und Erdung auf unserem weiten Weg gen Osten. Wir, die wir wie die Schirmchen der Pusteblumen, die hier übrigens viel größer sind als in Deutschland, hin und her geweht werden. Jeder Tag ist anders. Jeder Tag hält eine neue Überraschung für uns bereit. Routine ist hier nicht. Und wenn, dann besteht sie genau darin, sich auf die immer andere Situation einzustellen.
Das Ausbrechen aus den Routinen. Und an jedem Tag das tun was ansteht. Ein gutes Gefühl. Genau unser Ding. Das geht mir durch den Kopf, als Irina sagt: „Oh, morgen ist schon wieder Montag. Ich wünschte, wir hätten noch Wochenende.“ Ich kenne dieses Gefühl von dem sie spricht sehr genau und darf es nun hier für uns ganz anders erleben. Nicht in der „Montag bis Freitag Zwangsjacke“ stecken, sondern an jedem Tag neu auf das Zugehen, was beim Öffnen meiner Augen der Tag von mir zu wollen scheint. Wir haben aufgehört die Wochentage beim Namen zu nennen. Wir haben sie von den vorgeprägten Stempeln befreit, die ihnen jeweils aufgedrückt sind. Hier jetzt darf für uns jeder Tag sein wie er will, ohne dass wir sagen: „Ach na klar, das ist ja wieder der Dienstag.“
Dieses Gefühl mit uns zu nehmen auf unserem weiteren Weg und dann irgendwann bis nach Hause, um es auch dort in unserem Alltag zu leben. Dass ist die Strecke, das Erleben und die Mühe wert. Das ist ein Reisemitbringsel, welches ich gern auspacke. Dann. Später.
Freigänger / Free walker
20.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Das große Metalltor öffnet sich knarrend und knarzend für uns. Einen Spalt nur. Gerade so weit, dass wir hindurch passen. Der Wärter ist unser Freund. Inzwischen. Die Fragen bleiben aus, wohin wir wollen. Ein kurzes gelächeltes Nicken ist genug. Und da stehen wir. Plötzlich ist alles anders. Lärm, Staub, rasende Autos. Sie alle sind auf dem Weg zu den Casinos, weit vor der Stadt. Luxuskarossen brettern vorbei. Heute ist Sonnabend. Großkampftag im Geld verspielen. Ich lag den ganzen Tag im Bett. Um Genesung bittend. Nun zieht es mich raus. Mein Kreislauf will Bewegung und mein Kopf auch. Meine Beine offenbar nicht. Die sind ganz schön schwach auf den Beinen. Krank sein unterwegs. Nicht wirklich der erste Wunsch auf unserer Liste. Doch was hilft es. Alltagsleben unterwegs hält eben alles für uns bereit.
Unser Weg zum Supermarkt. Jedes Mal ein Weltensprung. Erst raus ins wilde staubige Straßenleben, dann rein in die grellbunte, Lautsprecher geschwängerte, Consumer Welt des vierundzwanzig Stunden, allzeit bereit, Supermarktes.
Mir wird schwindelig. Bin nicht gewappnet für so viel Verkaufsdruck. Heute.
Lieber wieder hinlegen. Wollte mal Freigänger sein und ziehe doch die Waagerechte vor. Wird schon wieder.
Ist ja Sommersonnenwende. Der Tag, an dem anderenorts übers Feuer gesprungen wird. Wir werden unseren Feuersprung vertagen. Dann. Wenn es wieder Grund zum Jubel-Springen für uns gibt.
Die leisen Tage / The quit days
19.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Still, fast schüchtern kommen sie daher. Ohne Aufhebens. Ohne großartige Bezeichnung, die ihnen etwas ganz Besonderes zu verleihen versprechen.
Sie heißen einfach Montag, Dienstag oder eben Freitag. Doch nicht „Wanderung in die Berge“ oder „Tadschikisch Kochen“. War alles geplant. Ist nun alles abgeblasen. Liege hier mit Gliederschmerzen und Halsweh schwach im Bett und verstehe wieder einmal den Sinn dahinter nicht gleich. Sich meinem Schicksal fügen, das Einzige was ich tun kann. Halswickel, Ingwertee und schwitzen was das Zeug hält. Ist ja nicht so, dass mir bei 34 Grad im Schatten nicht schon warm wäre. Doch ich lege mich UNTER die Bettdecke und hoffe, den Prozess des Ausschwitzens, all dessen was da raus soll, zu beschleunigen. Ich habe aufgehört, nach den Gründen zu fragen. Nehme den Packen an Energie lieber zum gesund werden. Hab ich mehr davon. Stens lapidarer Kommentar: „Auch eine Form, Ramadan zu begehen.“
Doch vielleicht, vielleicht geschieht an genau diesen Tagen das Eigentliche.
Das kurze Hände-Füße Gespräch mit dem Pförtner, der sich freut dass wir da sind und seinen Wasserschlauch, zum Hof befeuchten, gleich noch freudvoller schwingt.
Der kleine Zwerg-Irgendwas Hund, dessen Spaß es ist, Sten in die Wade zu zwicken, als er wohl zu leichtfüßig über den Hof lief.
Das kurze zufällige Zusammentreffen mit Pawel, bei dem wir am Montag einen Termin zum Reifen Wechsel haben. Bisher wussten wir nicht, wohin wir fahren müssen. Doch wie aus heiterem Himmel steht er hier auf dem Hof vor dem Leo. Genau in dem Moment, als Sten vor die Tür tritt und erklärt ihm, wo seine Werkstatt und unsere, aus Russland besorgten, Reifen sind. Ob sie wohl passen werden? Träume ja nur noch so ein Zeug von zu kleinen Reifen oder einem Getriebe, welches nicht... Doch das nur am Rande.
Da sind auch die kleinen Gespräche übers Leben mit Dima, unserem liebgewonnenen Sushi-Man, heute eben nicht live sondern per WhatsApp.
Die kleinen Begebenheiten, die uns hier das Gefühl geben, ein wenig zu Hause zu sein, auf diesem großen freien Platz der MAN Werkstatt.
Sitzen im Wartesaal / Sitting in the waiting room
18.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
...und warten mal. Zwei Wochen lang waren wir nun einmal nicht auf irgendwelchen Ämtern, an Landgrenzen und auf Behörden. Und schon schlägt uns unser Kopf ein Schnippchen. Zwei Termine stehen heute an. Ein Gespräch mit unserem Broker bezüglich des weiteren Vorgehens, unser Getriebe betreffend. Und Geld wollen wir holen. Nun, Zweites wird schnell erledigt sein. Bank finden, herein gehen, an den Schalter treten und schon ist die Sache erledigt. Sergey ist sogar mit uns. So dass es auch keine Verständigungsprobleme geben kann. Bank finden, hinein gehen, das geht schnell. An den Schalter treten, stockt schon mal nicht. Erst eine Nummer ziehen und setzen. Das Aufrufen der Nummern scheint irgendeinem Prinzip zu folgen. Der Reihe nach geht es jedenfalls nicht. Die Zeit verstreicht, unser zweiter Termin müsste jetzt bereits anfangen. Doch wir sitzen und warten. Als wir an der Reihe sind, die kurze unfreundliche Auskunft, der Dame am Schalter, dass unserem Wunsch hier nicht entsprochen werden kann. Das sei in einer vollkommen anderen Etage.
Und warum gibt es beim Nummern ziehen dann die entsprechende Wahloption? Sergey ärgert sich über sein Land. So oft sind die Dinge nicht zu Ende gedacht, wie er meint. Uns bleibt nichts übrig als gute Laune zu bewahren, eine Treppe höher zu steigen, erneut eine Nummer zu ziehen und wieder zu warten. Wir merken, dass wir über die Wochen hinweg ruhiger geworden sind. Es hebt uns nicht mehr an, regt uns nicht auf. Nur vergessen wir offensichtlich vom Einen auf das andere Mal, dass alles „Öffentliche“ lange dauert. Gesunde Verdrängung, nennen wir es.
Zu unserer Freude kann der Wachmann, einer von denen, die hier an jeder Ecke stehen, Deutsch sprechen. So vertreibt er sich seine Zeit mit uns und umgekehrt. In der Schule habe er Deutsch gelernt, die Sprache geliebt und ist dran geblieben. „Lastkraftwagen“ kann er sagen und „Schwein gehabt“. Hatten wir aber nicht, denn wir kommen an keinen einzigen Dollar heran. Die Systeme streiken gerade. Wahrscheinlich haben sie hitzefrei. Beim Broker ist das Büro klimatisiert. So klären sich alle Schritte kühlen Kopfes, soweit das heute möglich ist, unaufgeregt und schnell. Der eigentliche Vorgang kann sowieso erst anlaufen, wenn das Getriebe denn irgendwann einmal da ist. Zu unserer großen Freude hat es keine Grenze mehr zu überwinden. Es befindet sich bereits in Kasachstan und ist auf dem Weg zu uns. Doch die Straßen sind schlecht und die Strecken weit im neuntgrößten Land der Erde. Seit Anfang März begleitet uns das Thema mit dem Verteilergetriebe nun schon. Eigentlich längst Grund genug, unser Unterfangen umzutitulieren, von „Abenteuer Reise“ in „Abenteuer Getriebe“.
Ramadan / Ramadan
17.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Wir laden Tousif zum Essen ein. Doch er druckst etwas herum. Er möchte sich gern mit uns treffen doch Essen, das passt ihm gerade nicht so richtig, merken wir. Tousif, unser islamischer Bekannter aus Indien, erzählt uns, dass er seit ein paar Tagen sein Essverhalten umstellt. Leichte Suppen, Reis, nichts Schweres. Ramadan steht an. Am 18. Juni geht es in diesem Jahr los. 29 Tage Fasten, bis zum 16. Juli. Von Jahr zu Jahr rückt die Zeit des Ramadan um 10 bis 11 Tage, nach dem gregorianischen Kalender, nach vorn. In diesem Jahr trifft Ramadan nun auf die Monate Juni und Juli. Hier, wie in vielen anderen islamischen Ländern ist es in dieser Zeit sehr heiß.
Ich wusste, dass zu Ramadan zwischen Sonnen-Auf- und Untergang nichts gegessen wird.
Dass auch nichts getrunken wird ist mir neu. Ich frage Tousif ob das bei den hier herrschenden 34 Grad und intensiver Sonnenstrahlung nicht unweigerlich zu Kopfschmerzen führt. Er bestätigt meine Vermutung. „Ja, ich bekomme Kopfschmerzen und fühle mich auch sonst leicht benebelt. Doch ich mag dieses Gefühl des intensiveren Hörens, Riechens und Wahrnehmens.“, ist seine Antwort.
Der Wert und das Besondere des Wassers wird ihm in dieser Zeit jedes Jahr besonders deutlich, erzählt er weiter. Wie er seinen harten Manager-Job in diesen vier Wochen durchhält, ist mir ein echtes Rätsel. Seine inneren Aktivitäten fahren zwar nach unten, doch der Anspruch in seinem Job bleibt der gleiche. In Ländern, in denen die überwiegende Anzahl der Bevölkerung in diesen Wochen fastet kann ich mir vorstellen, dass das Leben dann generell etwas gemächlicher läuft. Hier in Kasachstan sind 47% der Menschen Muslime und 44% Russisch-Orthodoxen Glaubens. Also fast Hälfte zu Hälfte. Ich werde Tousif fragen wie er mit all denen zurecht kommt die in diesem Monat nicht fasten und umgekehrt sie mit ihm.
Eines macht mich in diesen Tagen froh. Das Fasten ist Reisenden im Islam untersagt, da es den Körper zu sehr schwächt. Da scheint Irgendjemand verstanden zu haben wie wir uns unterwegs fühlen. Das Reisen strengt durchaus an. Die wechselnden Orte, das Einlassen auf komplett verschiedene Bedingungen. Essen was gerade angesagt ist. Egotrips hinsichtlich der Ernährung sind da nicht ganz so angebracht. Ich bin froh, wenn wir genügend sauberes Wasser zum Trinken haben. Und das zu jeder Zeit des Tages. Denn die Wärme setzt unserem Kreislauf zu. Da helfe ich meinem Blut gern und verdünne es etwas mit Wasser.
Eins geht mir trotz, oder gerade wegen des verdünnten Blutes durch den Kopf: Sex ist in der Zeit des Ramadan auch verboten. Heißt das dann, dass es in neun bis zehn Monaten keine Neugeborenen gibt? Und was ist wenn doch?
Waschtag / Washing day
16.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Staubige Straße. Viel Platz zum Stehen haben wir nicht. Direkt neben uns geht es steil bergab. Autos brausen stadteinwärts. Mehr Betrieb ist in der entgegengesetzte Richtung. Feierabendverkehr. Die Fahrer haben die Sonnenblenden herunter geklappt, die Fenster weit geöffnet. Mit jedem Fahrzeug wird für den Bruchteil eines Momentes ein neuer Fetzen Musik zu uns geschlenkert. Sten steht am Straßenrand. Die große Tasche mit unserer Wäsche über den Arm gehängt. Heute ist Waschtag bei uns. Alle vier Wochen versuchen wir jemanden zu finden, bei dem wir unsere Wäsche in die Maschine werfen können. Trampen ist hier vollkommen üblich. Im ganzen Land bewegen sich die Menschen auf diese Weise vorwärts. Manchmal halten Sammeltaxis, Richtungstaxis, Schwarztaxis oder legale Taxis. Irgendwas klappt immer. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, einfach an die Straße zu treten und den Arm ganz leicht nach unten, auf sieben Uhr, zu halten. Heute dauert es länger und wir überlegen gerade, wie wir uns strategisch günstiger stellen könnten, so dass die Autos überhaupt ne Möglichkeit zum Anhalten haben. Doch das ist irgendwie schon wieder viel zu europäisch gedacht. Im nächsten Augenblick hält ein kleines altes weißes Auto um uns mitzunehmen, und alle anderen müssen eben aufpassen und drum herum fahren. Mit Roman und Irina sind wir verabredet. Sie sind vor kurzem in ihre neue Wohnung eingezogen. Wohnungen werden hier gekauft. Mieten, das macht kaum einer. Nur dann lohnt sich der ganze Aufwand, den die beiden in die Renovierung gesteckt haben.
Der Fahrer des kleinen weißen Autos telefoniert ein paar Mal mit Irina, um erst die Richtung, dann die Adresse zu finden. Freudig wedelt er beim Fahren mit den Geldscheinen die wir ihm gegeben haben. „Kuschatch“, sagt er und lacht. „Essen“ heißt das. Sieben Kinder hat er zu versorgen, fünf davon sind noch klein. Unser Geld deckt heute offensichtlich den Tisch der Familie. Er kennt sich aus in der Stadt. Über Schleichwege sind wir schneller an unserem Ziel als gedacht. Er winkt uns beim Aussteigen nach und auch Agatha und Irina winken. Sie schauen aus dem Fenster, damit wir wissen, wohin wir laufen müssen. Laufen, hier, wie so oft in den Städten Zentralasiens eine echte Herausforderung. Lebensgefährliche Löcher sind das, was die Treppe zusammen zuhalten scheint. Kinderbeine verschwinden darin vollkommen und unsere Füße auch. Achtsamkeit. Hier kann man sie leben.
Von außen erinnert mich die ganze Wohnanlage irgendwie an meine Kindheit. Ich habe kein scharf gezeichnetes Bild im Kopf. Doch ich habe das Gefühl, diese Art von Hausfassaden zu kennen. Da stehen wir nun mit unserer großen bunten Tasche voller schmutziger Wäsche und versuchen durch die schwere Eisentür ins Haus zu gelangen.
Treppe hoch. Jeder Treppenabsatz sieht anders aus, jede Eingangstür folgt ihrem eigenen Sicherheits-Konzept. Ganz oben wohnen die Margatskayas. Die Wohnung, eine Offenbarung. Mit so viel Liebe haben es die Drei es sich hier gemütlich gemacht. Kein Vergleich zu dem, was das Haus von außen verspricht. „Alte Häuser sind billiger und vor allem sicherer“, sagt Irina. Fünf Geschosse sind die maximale Höhe und sie sind stabil, sprich mit Metallträgern, gebaut. In Erdbeben gefährdeten Gebieten mitunter das Mittel zum Überleben. Die neuen Häuser sind höher und in Windeseile hochgezogen. Erdbebenschutz steht da nicht so zur Debatte, mehr der Profil. Abend in Familie. Die Wäsche rumpelt in der Maschine, wir sitzen zusammen in der Küche. Essen, trinken, haben Spaß. Was es wohl heute Abend bei unserem Fahrer mit seinem kleinen weißen Auto und den sieben Kindern am Tisch zu essen geben wird?
Keine Selbstverständlichkeit / No self-evident fact
15.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Da liege ich hier am Pool. Leise chillige Musik summt durch die Luft. Alles ist entspannt, mein Gesicht, jeder Muskel des Körpers. Ein paar Yoga Übungen liegen hinter mir. Einfach mal Ruhe und sonst nichts weiter. Ich habe das Gefühl, dass uns das gerade gut tut, nach dem monatelangen Umherreisen. Mal keine staubige Piste, mal keine anstrengende Grenzprozedur, mal nicht jeden Abend nach einem geeigneten Schlafplatz suchen. Keine Frage, wir mögen es draußen zu sein, unseren „Stiefel“ zu machen, uns den Wind um die Nasen wehen zu lassen. Sechs Monate sind wir nun unterwegs. Halbzeit. Luft zufächeln, Wasser trinken, Beine massieren, Strategiebesprechung. Ja, genau das ist es. Wir reden über all das was bisher war, über unsere vielen neuen Bekanntschaften und neuen Freunde. Wir denken darüber nach was das Unterwegssein mit uns anstellt. Wie es uns verändert. Ob es uns verändert? Wir glauben schon. Was das heißt werden wir erst danach erfahren.
Die zweite Etappe steht an. Sowohl für den Leo als auch für uns. Ihn fit zu machen für die Berge des Altai Gebirges in Russland, die unendlichen Pisten der Mongolei und die Serpentinen Chinas, ist der Plan. Und eben nicht nur den Leo, sondern auch uns beide.
Alles hat seinen Rhythmus, sein Auf und Ab, seine Spannung und Entspannung. Die Dinge leben von Kontrasten. Und so sind wir uns vollkommen bewusst, dass nach der jetzigen Ruhe erneut ein Sturm ansteht. Egal wie der aussieht, egal was das heißt.
Ich glaube, dass die Menschen hier ganz ähnlich leben. Die meisten wissen was es bedeutet, ein hartes Leben zu führen. Wirtschaftlich und politisch in unsicheren Zeiten zu leben. Um so mehr schätzen sie, dass es in Kasachstan aktuell ruhig ist, keine Länderkonflikte an den Grenzen toben. Anders gerade in der Ukraine. Dima, unser Sushi-Man kommt aus Kiew in der Ukraine, genau wie der Chefkoch Vasyl. Er stammt aus Odessa. Beide hat der Krieg hierher gespült. Sergey, ihr Chef, hat uns erzählt wie nervlich am Ende beide waren als sie hierher kamen. Friedliches Miteinander ist leider keine Selbstverständlichkeit.
Unsere Reise, das sagen wir uns jeden Tag, ist ebenso nicht selbstverständlich. Es ist eine einzigartige Zeit in unser beider Leben. Wir sind dankbar dafür.
Eine besonders strahlende Energie geht von Vasyl und Dima aus. Man ahnt, dass ihr Leben nicht nur eine Paradiesfahrt war. Als Soldaten waren sie an der Front. Das Erlebte hat sie tief getroffen. Sobald die Sprache darauf kommt, sehe ich die traurigen Erfahrungen in Dimas Augen. Umso mehr wissen sie es zu schätzen, hier jetzt sicher vor dem Zugriff der ukrainischen Armee zu sein und einen Job zu haben. Sie wollen ihn gut machen. Das ist zu merken. Gerade kam Dima mit seinen großen braunen Augen und dem dunklen Strubbelkopf lachend vorbei und fragte nach, ob wir heute wieder seine Sushi-Röllchen zum Mittag essen wollen. Keine Frage, wir wollen!
Tausend Gesichter / Thousand faces
14.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Früher war Kasachstan für mich ein großer gelber Fleck. Irgendwo ganz da im Osten. Mal Teil der UdSSR gewesen. Irgendwie Russisch und irgendwie auch nicht. Was weiß ich denn?
Nun bin ich hier. Ziemlich lange schon. Länger auch als gedacht. „Mancheenmal tuste gornich gleich ahnen tun wozu das soll nu och noch wieder von nütze sein tun soll nichewahr.“, ist der lapidare Kommentar eines lieben Freundes dazu aus der Heimat. Wir haben beim Lesen vor Lachen in der Ecke gelegen und gleichzeitig war uns klar, wie recht er damit hatte. Wir sind uns dessen bewusst, dass uns irgend etwas zur Ruhe zwingt. Hier sein, tiefer eintauchen, schauen, was um und in uns ist. Menschen kennen lernen aus deren Begegnung mehr wird als eine flüchtige Abendbekanntschaft.
Menschen. Menschen. Menschen. Ungefähr 15 Millionen gibt es davon in Kasachstan.
Mit fünf Einwohnern pro Quadratkilometer ist es hier doch ziemlich luftig. Nimmt man dann die stark besiedelten Gebiete und hört, dass deren Einwohnerdichte nicht einmal der Vorpommerns entspricht, dann ist klar, was „stark“ hier bedeutet. Hier kann man Windsurfing machen, mitten in der Stadt. So viel Platz ist rundherum... Die Städte wirken groß. Doch einzig, weil wegen der Erdbebengefahr so gut wie nur flach, und damit breit, gebaut wird.
Und wer wohnt hier alles? Es ist ein kunterbuntes Völkergemisch. Darunter sind Namen, die habe ich in meinem Leben noch nie gehört. 63% der Menschen, die hier leben, sind Kasachen. Der Rest sind Kasachstaner. Und die bestehen zu 23% aus Russen, 3% aus Usbeken, 2% Ukrainern, 1,5% Uiguren, 1,3% Tataren, 0,5% Koreanern, Weißrussen, Türken und Aserbajanern, zu 0,2% aus Dunganen, Kurden, Tadschiken, Polen, Tschetschenen und Kirgisen. Um nur die zu nennen, die in % Zahlen erfasst wurden sind. Deutschstämmige gibt es noch 1%. Das waren früher mehr. Doch nach 1991, der Zeit der Unabhängigkeit, sind viele ursprünglich Deutsche nach Europa gezogen.
Von 125 Ethnien spricht man, die in Kasachstan leben und das Land zum Multikulti-Staat machen. Neben geografischer Ursachen war es leidet die Deportation der Menschen, die sie zu frühen Sowjetzeiten hierher kommen ließen. „Verbannung in die Straflager Kasachstans“, war damals eine leider übliche Methode. In den 50er und 60er Jahren kamen erneut viel Leute hier her. Diesmal mehr oder weniger freiwillig, um das weite freie Land für die Landwirtschaft nutzbar zu machen. Auch sie sind später einfach geblieben.
Und so wundert es uns nun überhaupt nicht mehr, wenn wir Dunkelhaarige mit leuchtend grünen Augen oder Blonden Menschen begegnen, bei denen wir annehmen könnten, sie kämen aus Jena. Doch sie sprechen Russisch und wurden in Kasachstan geboren.
-
DSC_6839
-
DSC_6956
-
DSC_6849
-
DSC_7216
-
DSC_6976
-
DSC_7221
-
IMG_8157
-
DSC_6871
-
DSC_6856
-
DSC_6891
-
IMG_8114
-
DSC_7040
-
DSC_6883
-
DSC_6884
-
DSC_7009
-
DSC_7099
-
IMG_8137
-
DSC_7055
-
DSC_6983
-
DSC_7234
-
IMG_8165
-
DSC_6935
-
DSC_7105
-
DSC_7025
-
IMG_8161
-
DSC_7121
-
DSC_6995
-
DSC_7227
-
DSC_6950
-
IMG_8098
-
DSC_7143
-
IMG_8095
-
DSC_7141
-
DSC_7150
-
DSC_7060
Nomandentage / Nomad’s days
Die Familien ziehen weiter. Vater, Mutter, viele Kinder. Nomadenleben. Irgendwie ein Akt der ewigen Hoffnung. Dass hinter dem nächsten Hügel die Wiesen saftiger sind, der Wind schwächer weht. Ein Wasserlauf wäre auch ganz schön. Also zusammen packen um zu sehen, welche Überraschung sich auftut. Auch die Art des Essens muss zu dieser Form des ewigen Umherziehens passen. Anbau von langsam wachsendem Gemüse passt da einfach nicht. Das Essen ist immer mit von der Partie. Beweglich, mitwandernd sind die Herden der Nomaden an Schafen, Ziegen, Rindern und Pferden. Sie geben Milch, aus der Sahne, Käse, Butter und Sauermilch hergestellt wird. Und ab und an, ja da muss eines der Tiere geopfert werden. Milch, Mehl, Fleisch, das sind die Hauptbestandteile der Nomadenküche. Kumys, die gegorene Stutenmilch, auch Milchwein genannt, ist das Obst und Gemüse der Nomaden. Es enthält eine Menge an Mineralien und Vitaminen und darf bei keinem Essen fehlen. Seine Schale nicht bis auf den letzten Tropfen auszutrinken gilt als Sünde.
Ich stehe vor dem Birkenholz Trog und schlage mit einem großen Holzquirl Luft unter die Stutenmilch. Der Gärprozess im Schnellverfahren. Meinen Oberarmen tut das auch mal gut. Die Muskeln melden sich gleich freudig. Veredelt ist die Stutenmilch mit Rosinen und Zucker. Das nimmt ihr etwas die Strenge im Abgang…
Wir sind eingeladen bei den Nomaden. Sie wollen uns zeigen, wie ihre Art des Kochens vor sich geht. Wir sind gespannt und ein wenig aufgeregt. DENN, es soll sogar ein Schaf geschlachtet werden. Oh, da melden sich bei mir eine Menge Kindheitserinnerungen. Wenn ich früher mit meinem Vater einen Hahn schlachten ging und das Tier festhalten musste, bis es nicht mehr um sich schlug… Oder ihm zusah, während er einem Hasen das Fell über die Ohren zog. „Du musst wissen was Du isst“, war immer sein Satz. Das hilft mir heute, dem allem zuzusehen, was hier vor sich geht.
Wir stehen auf einer großen Wiese und mit uns ein mittelbraunes Schaf. Es ist ein „Sek“, ein Schaf, älter als ein Jahr. Es grast gemütlich vor sich hin. Und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Denn ich weiß etwas, was das Schaf nicht weiß. Es steht seine letzten Minuten hier auf dieser sommerwarmen Wiese. Mir wird schlecht bei dem Gedanken. Auch wenn mir klar ist, dass das Schlachten hier, wie überall anders auch, zum Alltag gehört.
Die Männer beten. Das Schaf schaut zu. Ein Mann legt Hand an. Schnell geht es und vollkommen geräuschlos. Nur das Blubbern des Blutes kann ich hören, als es in eine kleine Erdgrube fliest. Die Nerven des Schafes zucken noch ein paar Mal. Dann ist auch diese Bewegung zu Ende. Ich bin hin und her gerissen in meinen Gefühlen. Kann mich nur trösten mit dem Gedanken, dass die Seele des Schafes weiter gezogen ist und lenke mich ab mit dem genauen Beobachten dessen was vor sich geht. Der Metzger weiß was er tut. Geschickt stellt er es an, den Körper des Schafs zwischen zwei Masten zu hängen, um sofort mit dem Häuten zu beginnen, solange der Körper warm ist und sich die Haut gut lösen lässt. Ich höre und sehe wieder meinen Vater vor mir, wie er im Keller steht und das Gleiche tut. Die Handgriffe sind identisch, die Geräusche vergleichbar. Nur die Größen unterscheiden sich voneinander. Ein Hase hat nun einmal andere Dimensionen als ein Hammel.
Nach dem Häuten das Auslösen der Innereien. Dann sind die Frauen an der Reihe. Magen säubern, Därme spülen, Leber trennen, und so fort. Der Kopf, das Herzstück, landet, auf einen Stock gespickt, im Feuer. Zum Absengen der Haare. Die Läufe kommen alle vier je auf eine Zacke der Mistgabel. Kein edler Anblick, aber praktisch. Ich versuche meine Emotionen aus dem Spiel zu lassen und wertfreie Beobachterin zu sein. Das Leben der Nomaden interessiert mich, also gehört auch das alles dazu.
Die nächsten Schritte sind leichter zu ertragen. Der Anblick ist nun wieder abstrakt wie meist, wenn wir Fleisch kaufen oder essen. Wir sehen dann nicht das Schaf vor unserem inneren Auge, wie es zufrieden auf der Wiese steht. Ich jedoch hab es vorhin noch laufen sehen…
Nun helfe ich den Dünndarm und Magen auszuwaschen. Anschließend wird die Haut des Magens mit kochendem Wasser übergossen und sauber abgeschabt. Denn genau da hinein stecken wir im Anschluss sämtliches Fleisch des Tiers. Es ist, als wird das Schaf in sich selbst gesteckt. Total verrückt. Inzwischen wurde eine Grube ausgehoben und Feuer gemacht. Kuhdung dient als Brennmaterial. Nachdem genügend Glut entstanden ist, wird ein Teil auf den Boden der Grube gegeben, darauf der gefüllte und verschlossene Magen gelegt. Nur ein Stöckchen schaut aus dem Magen heraus. Sozusagen als Schornstein. Damit der Dampf abziehen kann und die Magenhaut nicht platzt. Obenauf kommt wieder Glut und später Erde. Fünf Stunden lang gart das Fleisch nun in seinem eigenen Saft in der Tiefe. Das ist Nomadenküche in Reinform. Nicht mal einen Topf benötigt man dazu. Zeit zum Verschnaufen, Tee trinken und Nomadenpizza backen. Auch hier wird der mit Zwiebeln und Tomaten bestreute Hefeteig in einer Eisenform in die Glut gestellt und mit einem Metalldeckel verschlossen. Darauf werden Glutstücke gelegt. Quasi Ober- und Unterhitze im Freien. Kommt noch ein Wind auf hat man Umluft…
Die Pizza schmeckt vorzüglich. Das Fleisch aus der Magenblase auch. Doch mir geht der letzte Blick des Schafs mit der Nummer 89581707, geboren im April 2012, nicht aus dem Kopf.
Hurtig Jurtig / Jurte swiftly
12.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Also schnell ging hier erst mal gar nichts. Und wie eine Jurte fast täglich auf- und wieder abgebaut werden soll, um von einem Tag auf den anderen weiter zu ziehen, ist mir nach unserem Aufbau auch ein kleines Rätsel. Schwitzend stehen, sitzen, liegen fünf Männer und drei Frauen einen Tag lang erst auf der brachen Wiese. Nach mehreren durchwärmenden Tees in der prallen Sonne geht es ganz, ganz langsam los. Die Gitter der Seitenwände kommen zum Vorschein und rote gebogene Stangen.
Vor neunzig Jahren, in der Zeit ab 1929, mussten die Kasachen unter der sowjetischen Führung ihr Leben als Nomaden aufgeben. Es ging darum, das freie Leben der umherziehenden Nomaden ein für allemal zu beenden. Sesshaft sollten sie werden und damit kontrollierbar. Es war ein schmerzhafter Prozess, erzählen die Menschen, nun ebenfalls schon aus Erzählungen ihrer eigenen Vorfahren. Die Nomaden töteten damals lieber ihre Tiere, als sie den Parteileuten in die Hände fallen zu lassen. Viele Nomaden starben in dieser Zeit den Hungertod, oder wurden in Arbeitslager gesteckt. Die Bevölkerung der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik schrumpfte in diesen Jahren um zwei Millionen.
1991 kam die Unabhängigkeit. Neben vielen schwierigen und auch schlechten Ereignissen in dieser Zeit, musste sich das Land doch erst einmal komplett neu in sich selbst zurecht finden, hatte diese Zeit des Suchens nach der eigenen Identität den Effekt, dass die tief in den Menschen steckende Kultur des Nomaden Lebens wieder auflebte und als das eigentliche Wesen des Volkes erkannt wurde. „Die gesamte Kultur der Kasachen ist in der Jurte vereint.“ Ist eine weit verbreitete Ansicht und tiefe Überzeugung.
Yuliya hat uns mit hierher genommen, in die Nähe des Dorfes Ungurtus. Hier lebt ein Teil der Verwandtschaft ihres Mannes Marat. Sie selbst war auch noch nie hier draußen. Siebzig Kilometer außerhalb von Almaty. Eine Entfernung die Welten bedeuten kann. In Almaty ist das Leben das der modernen Urbanität. Hier draußen kommt es uns vor, als seien wir durch einen Zeittunnel geschlüpft und finden uns wieder in der Zeit vor einhundert Jahren. Eine neue alte Zeit. Denn das Herz der Menschen schlägt hier mit der Umgebung, zieht auf den Wolken und entlädt sich mit den Sommergewittern.
Wir werden selbst vollkommen ruhig und auch ein wenig träge. Den Rhythmus der Männer machen wir uns heute zu Eigen. Ein wenig Bewegung, dann wieder Ausruhen im Schatten. Das runde Gittergerüst steht. Sechs Segmente wurden aneinander gefügt. Die Anzahl bestimmt die Größe der Jurte. Im Sommerhalbjahr sprießen die hellen Jurten wie Champignons aus dem Boden der gelben und grünen Wiesen. Halbnomaden nennen sich die Kasachen heute, die den Winter in Häusern verbringen.
Es geht weiter. Das Dach der Jurte, Shangrak genannt, wird mit Stöcken in die Luft gehalten. Rundherum geht es nun darum, gebogene Dachstangen sowohl am Dachkranz als auch an der Jurtenwand zu befestigen. Mal ist die Stange zu kurz und fällt wieder aus ihrer wackeligen Halterung, mal kommt eine Windböe und bringt die fliegende Konstruktion komplett zum Einsturz. Zimperlich darf hier keiner sein. Die drei Meter langen Stangen landen immer wieder auf den Köpfen der Männer die versuchen, das Dach zu halten. Doch so lange sie komplett außerhalb der Mitte stehen, wird es einfach nicht funktionieren. Wir halten uns mit unserer altklugen deutschen Art zurück und bestaunen einfach was da vor sich geht. Klar fassen wir gern mit an. Doch Sten merkt schnell, dass er auf einmal ganz allein dasteht und Stangen befestigt. Alle anderen sind wieder beim Tee.
Nach den Stangen, untereinander mit einem festen Strick verzurrt, kommt der Stoff an die Reihe. Rundherum und auf das Dach wird der Leinenstoff gespannt. Anfangs sieht es immer so aus als würde es niemals passen können. Doch am Ende steht unsere wunderschöne Jurte, mit quietschender Tür, vor uns. Die Tür MUSS quietschen. Das sagt schon ihr Name „die Quietschende“. Sie hat die Aufgabe darauf aufmerksam zu machen, dass jemand herein kommt. Denn ne Klingel gibt es nicht und irgendwie anders macht man auch nicht auf sich aufmerksam. Die Nomaden kommen einfach herein und sind da. Das ist Brauch in der Steppe. Rechter Fuß zuerst. Doch das weiß ja jeder.
Innen sind die Wände mit bunten Tüchern und Teppichen verkleidet, als wir das erste Mal eintreten. Auch auf den Böden alles bunt. Nun nur schnell Schuhe ausziehen und am runden Tisch Platz nehmen. Der Chef, oder in unserem Fall die Chefin, sitzt erhöht direkt gegenüber der Tür. Im Uhrzeigersinn werden alle anderen platziert. Sich selbst irgendwo hinzusetzen geht gar nicht! In der bunten, lichtdurchfluteten Schutzhülle fühlen wir uns pudelwohl. Tee trinken mit Milch, Tee ohne Milch, dafür mit gemahlenen Weizenkörnern. Der Samowar brodelt vor sich hin und ist im Dauereinsatz.
Der Jurten Aufbau ist klassisch Frauensache. Ein bis zwei Stunden brauchen sie dazu. Die Männer kümmern sich um die Herden. Heute haben sie beim Aufbau mitgeholfen. Vielleicht hat es ja deshalb fast einen ganzen Tag gebraucht, bis die Jurte stand?
Sufi oder wie? / Sufi or how?
11.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Schamanen, Derwische, Sufis. Mir brummt der Kopf. Was ist was? Wie gehört es zusammen? Ich bin verwirrt und irritiert. Als ich merke, dass Ganze auch noch etwas mit dem Islam zu tun hat.
Ich versuche den Knoten in meinem Kopf zu lösen und die einzelnen Stränge zu verfolgen. Derwische kennen wir schon aus der Türkei. Es sind dort die Männer die sich in ihren weiten hellen Rockmänteln in Trance begeben und unaufhörlich drehen. Andernorts sind sie bunt gekleidet. Wie im Sudan und Afghanistan. Ihre Bezeichnung als „Derwische“ kommt aus dem Persischen und bedeutet „asketischer Mönch“ oder auch „Bettler“. Wobei der Begriff des Bettelns hier für die Askese, entsagende Lebensweise steht. Die Silbe „Der“ leitet sich von dem Wort „Tür“ ab. Derwische wandeln vor den Türen oder stehen an der Tür zur Erkenntnis und dem Übergang vom Irdischen zum Jenseits, der Welt des Erkennens der göttlichen Welt.
Ein Derwisch wird als Sufi bezeichnet, weil er den Sufismus praktiziert. Damit ist er Angehöriger einer muslimischen asketisch-religiösen Ordensgemeinschaft. Derwische gelten als Quelle für Klugheit, Weisheit und der Heilkunst.
Ein Sufi im ursprünglichen Sinne ist ein „Wollkleidträger“. Ihr Ursprung kommt ebenfalls aus der asketischen mystisch-ekstatischen Tradition. Lange vor dem 9. Jahrhundert lebten sie auf ihre Weise. Später wurde ihnen nahe gebracht, dass der Islam ähnliche Elemente enthält wie der Glaube der Sufisten. Das führte dazu, dass die Islamisten die Sufi in Teilen dem Islam zuordneten. Die Sufi webten wiederum, ab dieser Zeit, in ihre ursprünglichen Gesänge auch Gebete des Islam mit ein.
Wir stehen am Fuße zweier Grashügel die sich in das Steppenland ziehen, bevor sich dahinter im Süden die Berge des Tien Shan auftürmen. Es ist ein Land mit besonderen Energien, heißt es. „Bifatima“ lebt hier. Sie ist der letzte Sufi Kasachstans, steht geschrieben. Die Menschen im Dorf sind geteilter Meinung über Bifatima. Die Einen folgen ihr und ihren mystischen Zeremonien, gemeinsam mit Pilgern, die sie aufsuchen. Die anderen meinen, es sei doch nur Geldschinderei, was die alte Dame da betreibe.
Ihre Methoden sind nicht ohne. Von Waschungen mit dem Blut eines Schafes über Wasserschocks, Peitschen Hieben, während man unter einem Teppich liegt bis hin zu Reinigungszeremonien, bei denen man für zwölf Stunden in Felle und Folie eingepackt still schwitzend und unbeweglich da liegt. Eine Art Wiedergeburt. Zwei Stimmen klingen in mir. Die eine, die schon gespannt wäre, was da mit mir und überhaupt geschehen würde. Die andere, die sich geradezu fürchtet, vor den hart wirkenden Methoden. Nun, wir machen es wie so oft in letzter Zeit. Wir überlassen es dem Zufall, ob wir ihr begegnen werden oder nicht und besteigen auf eigene Faust die Energiehügel. Die Kräfte der Erde und des Universums treffen sich in einem Spalt in der Mitte der Landschaft. Ein Stein zeigt die Stelle genau an. Gerahmt von einem schwarzen und roten Monolithen, die für Wünsche nach Kindern und Gesundheit stehen, hat das gesamte Bild hier etwas von einem Altar mitten in der Landschaft. Mich fesselt das Licht, welches in dieser letzten Stunde vor Sonnenuntergang über die Bergkuppen lugt. Auf der gegenüberliegenden Seite türmen sich tief blaue Gewitterwolken. Dazu kommt ein Wind auf, der geradezu in diese Szenerie zu gehören scheint. Die Natur ist einfach genial. IHRE Energie ist es, die mich ergreift. Bifatima begegneten wir nicht. Soll heißen, wir bekamen sie nicht zu Gesicht. Alles andere bleibt ihr Geheimnis. Und die Schamanen. Was ist mit denen? Sie sind ebenso Heiler und asketisch lebende Weise, die Trance zur Heilung nutzen. Sie leben weiter im Norden in Sibirien und Südosten. Bis nach Australien zu den Aborigines reicht ihre Verbreitung. Ihr Tun und Sein erscheint mir vergleichbar mit dem der Sufisten. Nur liegt ihr Ursprung regional in anderen Gegenden. Uff, mein Knoten ist gelöst. Befreiter Atem schafft sich in mir Raum, unter diesem tiefdunklen, von der Sonne beschienen, Wahnsinnshimmel.
Urlaub / Vacation
10.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Ja, ich möchte Deine volle Aufmerksamkeit. Tag am Pool. Urlaubstag. Auf das blaue Wasser schauen. Schreiben. All die Geschichten vom Kochen und überhaupt. Die Menschen in Worte gießen. Die Landschaften auch. Jedes Wort selbst hat seine Bedeutung. Es bezeichnet und gleichzeitig beschränkt es und grenzt aus. Wie gerecht kann man beim Schreiben einer Situation überhaupt werden? Es bleibt in jedem Falle skizzenhaft. Und selbst in diesen Skizzen erkennt jeder von uns etwas anderes. Da wir alle aus einem vollkommen anderen Gemütszustand und Blickwinkel auf die Worte und damit Situationen schauen. Allein ein so banales Wort wie „Tag“ löst in jedem von uns etwas anderes aus. Der eine sieht Licht, der andere Regen, der eine fühlt Arbeit, der andere Freizeit. Der eine denkt MonTAG , der andere SonnTAG. Genau so empfinde ich es mit all den Fotos die ich mache. Es sind Ausschnitte eines Großen und Ganzen. Im Moment der Aufnahme entscheide ich, was ich als das Bedeutsame ansehe. Das Bild drum herum kenne nur ich. Und jeder Betrachter wird sich um das Foto herum seine ganz eigene Wirklichkeit schaffen. Wer weiß wie viel Varianten an Bildern das ergeben kann? Ich finde es spannend und skizziere weiter in Worten. So hat jeder von uns die Möglichkeit die ihm liebste Farbe hinzuzufügen. Ich schreibe „blaues Wasser“. Doch was alles kann Blau sein! Von hellem Türkis bis tiefdunklem Nachtblau ist alles möglich.
Schicksal / Destiny
09.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Tousif ist in Indien geboren, hat viele Jahre in Dubai gelebt und dort im Hotelbusiness mit einem Manager aus Jena ( J ) zusammen gearbeitet. Nun sitzt er uns als Operation Manager hier in Almaty gegenüber. Seine Augen leuchten, sein Blick ist flink. Er ist aufmerksam. Enthusiasmus steckt in jeder seiner Bewegungen. Gestern begegneten wir uns am Pool. Sergey, der Chef, machte uns miteinander bekannt. Es brauchte nicht viel und uns war klar, wir wollen uns wieder sehen. Elf Uhr holt uns der Fahrer Dilshat am Leo ab und bringt uns zu Tousif. Die Stadt ist verstopft, Unfälle an allen Ecken und Enden. Hat der Sturm der letzten Nacht die Gemüter derart bewegt? Erst ein Sandsturm, dann fegte Regen übers Land. Hochwasser in Almaty. Die Nacht. Der Morgen. Der Tag. Die Menschen scheinen ungehalten und nervös. Im Gebirge hat sich die Energie in Schnee entladen. Gestern noch lagen 35 Grad auf den grünen Berghängen, heute ist es kühles Weiß. Gondeln empfangen uns und holzverkleidete Fassaden. Wir sind im Wintersportresort. Nun nur noch die Ski abschnallen und rein ins Warme. So fühlt es sich an in 2.800 Metern Höhe. Wir sind im Restaurant „Chalet“ hoch oben am Berg „Shymbulak“. Sergey ist der Besitzer. Er hat die Ideen, das Gespür, die Lust. Tousif ist der Manager. Er leitet die Prozesse an. Er führt die Mitarbeiter. Zusammen sind sie ein prima Team. Das „Chalet“ ist ein Restaurant der Spitzenklasse. Das spricht aus jeder Echtholzdiele, aus den liebevollen Details der Einrichtung. Nicht überladen, nicht pompös. Einfach passend und fantasievoll! Vasyl kommt zu uns. Er ist der Chefkoch. Mit Jamie Oliver hat er in London zusammen gearbeitet. Er liebt dessen Wesen, seine Art zu kochen. Wir auch. Heute geht es um Vasylys Kochkunst. Vasylys Lieblingsgerichte sind die seiner Großmutter Katharina aus Odessa. Wir bestärken ihn darin, diese traditionelle Küche weiter zu pflegen. Einzelne Speisen herauszupicken und sie in das Heute zu tragen. Er freut sich, dass wir seine Ansichten teilen und bereitet uns auf der Stelle eines der Gerichte aus Odessa zu. Es nennt sich „Forshmag“ und ist ein Gemisch aus Minikleinen Herings-, Apfel- und roten Zwiebel-Würfeln, angereichert mit Schmelzkäsecreme, Eiweiß und Mayonnaise. Das Ganze kommt auf geröstete Schwarzbrottaler. Obenauf die Krone aus rotem Kaviar und einem grünem Stängel Lauch. Meerrettich- und Sanddornschnaps dazu und der Traum der Großmutter aus Odessa ist perfekt. Meine Güte.
So viele Speisen haben wir inzwischen zusammen getragen. Ich liebe sie alle auf ihre Weise. Freue mich darauf, all das dann später zu Hause mit unserer Familie und unseren Freunden auszuprobieren! Das werden köstliche Tage. Nach der geschmacklichen Reise in die Ukraine bewegen wir uns in die Sowjetzeit zurück. Schaschlik im Stil der UdSSR ist hier in den Bergen der Renner. Der Clou sind die Aluminiumspieße, auf welche das marinierte Lammfleisch gesteckt wird. Wer hatte damals schon Edelstahl? Wir schreiben die Zubereitungsschritte mit, wir filmen und machen Fotos. Davor, dazwischen, danach und überhaupt sitzen wir mit Tousif zusammen und reden was das Zeug hält. Die Worte, Satzfetzen, Gedanken und Fragen wabern nur so durch den Raum. Es geht um Management, es geht um die Firmen, um Gott, Zufälle und Schicksal. Vor allem um Schicksal. Wer weiß schon ob die Dinge so zufällig geschehen, wie sie wirken? Warum kam Tousif gestern zum Pool? Er hatte es eigentlich nicht geplant. Wir ebenso wenig. Warum laufen die Dinge wie sie es tun? Ist es Zufall, ist es Schicksal, sind es, von wem auch immer, geplante Verabredungen? Tousif ist sich sicher, er ist erfolgreich im Leben, wenn er dem Schicksal Vertrauen schenkt. Wir sprechen darüber, dass wir manchmal innerlich eng und verkrampft sind, nicht offen für die Kraft dieser Energien. Dann laufen die Dinge schwer, wollen nicht so recht rucken und gelingen. Fangen wir wieder an zu vertrauen, begeben wir uns in den Lauf dessen was sich ergibt, fließen die Ereignisse wieder ineinander und ergeben ein wundervolles Kaleidoskop an Abenteuern. Sten, Tousif und ich sitzen Stunde für Stunde zusammen. Fast haben wir eine Plantage grünen Tees ausgetrunken, so oft wie der Kellner Nachschub bringt. Wir sind angetan, berührt, begeistert. Wir tauschen uns aus, wechseln Gedanken, setzen sie fort, spielen mit Möglichkeiten. Ein kurzes Schweigen nutzen wir gemeinsam zum Aufbruch. Denn das „Chalet“ ist nicht das einzige Objekt, welches Tousif als Manager Sergeys betreut. „Das „Bellagio“ ein Edelrestaurant am Fuße der Berge, in dem der eine oder andere Präsident der Welt schon ein- und ausging, zählt dazu. Wir sehen, wo Francoise Hollande saß und wo der Staatschef Chinas. Übervoll an Impressionen genießen wir das Vorbeiziehen der arangierten Bilder. Wir wissen, all das ist mit einem unendlich großen Haufen an Arbeit verbunden. Um es am Ende spielend leicht aussehen zu lassen, wenn die Köche galant in der Sommerküche Gemüse durch die Pfannen schwenken, wenn die Kellner über die Gartenwege schweben. Service ist ein knallhartes Geschäft. Überall auf der Welt. Der „Ray Pool Club“, das „Chalet“ und „Bellagio“ sind nicht alles. Sergeys Fantasie sprühte weiter. Und so eröffnete er vor einigen Wochen in der Innenstadt ein Lounge Café. Die Jungs hier sind super jung, doch sie machen ihre Sache gut. Auch wenn ihnen die Hände etwas zittern, als Tousif ihnen beim Wasser eingießen zusieht. Es ist wie es ist. Business ist ne harte Sache. Egal auf welcher Seite man gerade steht. Wir sind der Bestimmung des Tages heute wieder einfach gefolgt. Am Morgen sah es draußen einfach grau und pitschnass aus, als wir die Fenster vom Leo öffneten. Daraus wurden Stunden, die sich gewaschen hatten! „Schicksal“, abgeleitet vom altniederländischen Wort „Schicksel“, steht für Fakt oder Los, auch Omen und Orakel. Es bezeichnet Abläufe von Ereignissen in unser Aller Leben, die als von göttlichen Mächten vorherbestimmt oder als zufällig empfunden werden. In jedem Falle entzieht sich das Schicksal unserer eigenen Entscheidungsfreiheit. So steht es im Internet und das hat in dem Fall wohl mal recht.
Einfach mal so / Simply sometimes in such a way
08.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Wir wollen zum Canyon. Nah soll er sein und mit unserem Leo einfach zu erreichen. Momentan der Dreh- und Angelpunkt. Keine Steigung, kein schwieriges Gelände. Bitte, bitte Leo halte durch. Das Warten auf das neue Getriebe... Eine Herausforderung. Montagmorgen. Neue Gelegenheit zu Yuliya zu gehen. Sie ist unsere Ansprechpartnerin hier auf dem MAN Hof. Sie hält die Kontakte, sie ist engagiert. Kurzes Frühstück. Langes Gespräch. Am Ende, wenig Bewegung. Das Getriebe sitzt noch immer fest in Tschechien. Wir entscheiden zu bleiben. Klar, der staubige Hof ist nicht gerade das Himmelreich, doch wir glauben, dass wir ein falsches Zeichen setzen, wenn wir einfach wieder von dannen rollen. Sieht aus wie: „Na das kann ja warten...“. Spontane Einladung von Igor, dem Besitzer des Geländes. Er vermietet an MAN und hat selbst ein Transportgeschäft mit dreizehn Mercedes LKWs. „Ein kleines Geschäft“, wie er sagt. Kleine Geschäfte sind gut. Über die Großen wird zu viel geredet, erklärt er uns. Und wir verstehen. Eierkuchen gibt’s mit Schokolade darauf. Lecker, ohne Frage. Doch ich halte mich an die Schüssel mit Pflaumen. Sonst rollt bald nicht nur der Leo...
Igor zeigt uns sein Büro, wir ihm an seinem Computer unsere Webseite. Ich bekomme nen kurzen Schreck. Sobald Sten am Schreibtisch sitzt zieht er seinen „Büroblick“ auf. Er kann ihn noch. Ohne Zweifel. Viel Übung ist da nicht von Nöten. Also bitte schnell raus hier! Igors Sohn hat auch ein „kleines Geschäft“. Einen Swimmingpool. Wir hören, der sei direkt hinter den Werkstatthallen. In meinem Kopf formt sich das Bild eins unterirdischen Pools im abgehalfterten russischen Stil. Abgeblätterte Farbe, feuchte Wände, verrostete, wackelige Metallgeländer, trübes Wasser, fahles Licht. Was anderes soll es hier im Staub der großen lärmenden Hauptstraße geben? Igor führt uns hinter den Mülltonnen eine Treppe hinunter, bei der wir sorgsam jeden Schritt bedenken, um nicht hängen zu bleiben oder abzurutschen. Security empfängt uns am Fuß der waghalsigen Stufen. Dank Igor haben wir freies Geleit. Wieder die Frage. Was bitte soll hier von Wachleuten beschützt werden? Zehn weitere Schritte und wir sind sprachlos. Vor uns zeigen sich grüne Wiesen, ein Fischteich, ein gigantisch großer Pool, vom Sonnenlicht beschienen, nette Ecken zum Zurückziehen und Verweilen. Hängesitze, die über dem Wasser schweben.
Eine Bar, deren Hocker unter Wasser befestigt sind. Man selbst lässt sich also aus dem Wasser heraus bedienen. Eine Anlage vom Feinsten. Geschmackvoll bis in jede Ecke. Wie weggeblasen, mein Bild vom kalten, dunklen Verlies. Das Personal steht noch etwas tapsig in der Gegend herum. Es ist ihre erste Woche im komplett neu eröffneten „Ray Pool Club“. Jeder Handgriff ist der des ersten Mals. Ein Fotograf taucht ab, um das Kellner Pärchen in voller Montur unter Wasser für Werbeaufnahmen abzulichten. Schöne Idee. Passend zu allem was hier sonst so ist. Sergey, der Sohn mit dem „kleinen Geschäft“, lädt uns ein, heute hier sein Gast zu sein. Wir sind die Ersten. Wir sind allein. Ob wir uns nun in den überhitzten Leo setzen um in greifbarer Nähe zur Werkstatt zu sein oder 100 Meter weiter weg im Paradies Platz nehmen... Nun, die Entscheidung fällt uns nicht wirklich schwer. Einfach mal schwimmen, lesen, schreiben, geradeaus schauen oder gar nicht. Wifi gibt es auch. Für heute ist die Welt in Ordnung. Wir liegen auf dem blauen langen Divan. Halbschatten verwöhnt uns bei 35 Grad und Sonnenschein. Wir stoßen an mit unserer frischen orangeroten Zitronenlimonade und sind einmal mehr platt über den Lauf der Dinge. Vor zwei Stunden noch wollten wir aufbrechen zum Canyon. Dann kurze Entscheidung in der Nähe zu bleiben. Spontane Frühstückseinladung von Igor. Der wiederum zeigt uns den neuen Stolz seines Sohnes Sergey. Und nun liegen wir hier. Beglückt darüber, wohin uns der Zufall gerade spült. Einfach mal so. Danke, lieber Tag.
Jurtenhimmel / Sky yurt
07.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Die Jurte ist in meinen Augen DAS Haus der Nomaden. Für mich das Sinnbild von Luft und Raum. Gezeichnet von Wind und Wetter sind die Leute die in ihr ein- und ausgehen. Für uns die vollkommene Romantik. Steht für die Menschen die in ihnen leben mit Sicherheit ein hartes Leben dahinter. Doch ihre Gesichter sind rosig. Die Blicke ihrer Augen klar und leuchtend. Als wüsche die Luft allen Nebel und alles Fragende aus ihnen heraus. Wir treten in eine Jurte ein. Peinlichst darauf achtend, nicht AUF sondern ÜBER die Schwelle zu treten. Alles andere wäre ein schlechtes Ohmen. Mein Blick fliegt automatisch nach oben. Denn von dort strahlt die Sonne herein. Die schon so oft auf der kasachischen Flagge gesehene Holzkonstruktion und der aufgeschlagene Stoff geben den Blick zum Himmel frei. Mich zieht es dorthin. Mich zieht es zum Licht.
Wir sind aus den Bergen zurück und nun nahe Almatys. Hügelgräber stehen hier, fünfzig Kilometer vor der Stadt. Mal fünf Meter hoch, mal wesentlich höher. 1969 begann man mit den archäologischen Ausgrabungen, nachdem etliche Funde im Altertum bereits Grabräubern zum Opfer fielen. Fünfundvierzig Gräber gab es einst auf einer Länge von drei Kilometern. Das Grab, dem die besondere Aufmerksamkeit der Wissenschaftler galt, nannten die kasachischen Archäologen „Jesik“, nach dem gleichnamigen Ort unweit Almatys. Was man in dem abgelegenen Grab fand war unglaublich. Ein Goldfund, bestehend aus vierhundert einzelnen Teilen. Ein junger Mann, nicht älter als 18 Jahre, war hier weit vor der Zeit Christus begraben wurden. Er trug fortan den Namen „Der goldene Mann vom Issyk“ und gilt heute als DAS kasachische Symbol. Er ist Bestandteil des Weltkulturerbens. „Issyk“ vielleicht, weil hinter der viertausend Meter hohen Bergkette der Issyk-Kul Lake in Kirgistan liegt? Oder umgekehrt? Die ewige Huhn und Ei Frage... Das Alter des Fundes wird auf ca. viertausend Jahre geschätzt. Wobei man sich bei dieser Angabe nicht ganz einig ist. Fest steht, der Fund ist wertvoll und bestätigt, dass es zu Lebzeiten des „Goldenen Mannes“ Klassenunterschiede und eine Art Schrift gab. Was Archäologen zuvor ausschlossen.
Die Symbole des Goldschmuckes lassen darauf schließen, dass Schamanismus eine tragende Rolle zu Zeiten des jungen Kriegers gespielt hat. So ist auf dem Kopfschmuck des Mannes ein Pferd mit Bockhörnern abgebildet. Pferde galten als Symbol der Sonne und des Sonnengottes. Deshalb vermuten die Wissenschaftler darin die Verschmelzung des Sonnengottes und dem Stammestotem. Erfüllt von der Erhabenheit des Ortes steigen wir mit Irina und Roman zurück ins Auto und fahren schweigend weiter. Das Gesehene hält unsere Gedanken fest. Bewegung kommt erst wieder unter uns, als wir am Straßenrand Großmütter mit Stiegen voller leckerer Erdbeeren sehen. Irina möchte Marmelade für den Winter machen und wir freuen uns auf zuckersüße Erdbeeren mit Eiscreme am Abend in unserem Leo. Er erwartet uns auf dem Hof der MAN Werkstatt und bekommt ne Erdbeere ab!
06.06.2015 Tien Shan Gebirge / Kasachstan / N43°10’40.8“ E077°44’23.0“
Material schonend zu handeln, wie es der Deutsche liebt, entspricht nicht unbedingt der russischen Mentalität. Der Winter war lang, jeder Muskel lechzt nach Aktivität. Da spielt es kaum eine Rolle, ob vor einem Geländewagen ein Baumstamm liegt oder nicht. Das Fahrzeug MUSS da drüber gezogen werden. Pfeil auf alles, was die Physik dazu zu melden hat. Das Temperament ist ein anderes. Das merken wir auf Schritt und Tritt. Es ist direkter, unerbittlicher, auch härter im Nehmen, als wir es generell gewohnt sind. Eine blutüberströmte Fleischwunde am Fußgelenk, zugezogen am Wasserfall, hindert noch lange nicht daran, nach dem notdürftigen Verbinden wieder wild bergauf zu rennen. Zu Reiben scheint an diesen Beinen nichts. Das sind wohl nur europäische Wehwehchen. Wenn wir solche Beobachtungen machen und sie dann auch ansprechen, kommt oft die Sprache auf den Krieg. Das genau an dieser Stelle der Hase im Pfeffer lag. Die Deutschen in Vielem überlegen waren, aber eben nicht in der mentalen Stärke. Das Wetter, die Größe des Landes, die Beschwerlichkeit des Lebens scheint den Menschen in diesen Landstrichen irgendwie eine weitere Schutzhaut gegeben zu haben. Sie lieben die Schönheit der Natur hier, reagieren sensibel darauf und haben auf der anderen Seite etwas Gegerbtes an sich. Beim Laufen freuen wir uns wie die Kinder von ihren Eltern dazu angehalten werden den weggeworfenen Müll von anderen aufzusammeln. Sie tun es ohne Murren. So oft sehen wir, wie leere Flaschen aus Autos fliegen. Hier in den Bergen ein gegenteiliger Lichtblick. „Manche wollen, dass wir wieder nach Russland gehen“, erzählt uns Irina. Generationen zuvor hat es die Menschen quer durch das Land gespült. Nun ist Kasachstan ihre Heimat. Sie wurden hier geboren. Auch wenn der Vater aus Sibirien kommt und die Mutter Weißrussin ist. Hier im Osten Kasachstans finden wir immer wieder ein so gewaltiges Gemisch an Typen. Manche sehen aus, als ob sie uns in Jena schon begegnet seien, andere, als kämen sie aus den entferntesten chinesischen Winkeln. Das angenehme Klima hat Viele hier versammelt. Und doch ist es offensichtlich nicht immer einfach, die Toleranz des Miteinanders zu leben. Als kleiner Zwischensnack in der hungrig und schläfrig machenden Höhe baut uns Irina eine russische Spezialität zusammen. Dicker, geräucherter Bauchspeck auf Schwarzbrot. Zur geschmacklichen Abrundung kommt obenauf ein Stängel Lauch. „Das beste Essen gegen die Kälte. Und ideal als Grundlage für den Wodka!“, lernen wir. Eben ganz der russische Stil. Allen anderen scheint die Höhe nichts auszumachen. Sie sind daran gewöhnt. Unsere Herzen hingegen schlagen wie wild nach ein paar Kilometern Höhenwanderung. Anschließend fallen wir in einen komatösen Schlaf, begleitet vom Bergbachrauschen des nahen Wassers.
Vater der Äpfel / Father oft the apples
05.06.2015 Tien Shan Gebirge / Kasachstan / N43°10’40.8“ E077°44’23.0“
Wir sind wieder da. Ein vierzig Minuten kurzer Flug brachte uns gestern Abend wieder nach Kasachstan in die Stadt der Äpfel. „Alma-Ata“, der frühere Name der Stadt, wird von seinen Bewohnern noch heute sehr geliebt. „Vater der Äpfel“, so die Bedeutung des Namens. „Aport“ heißt die Apfelsorte, bei der allein ein Apfel 500 Gramm bis ein Kilogramm wog. Er reifte im Süden der Stadt in einer Höhe von 900-1.200 Metern Höhe. Der Apfel ist hervorgegangen aus einer Züchtung der Wildäpfel „Malus Sieversii“, die es hier seit Urzeiten gab. 1865 befahl der russische Zar, dem hier lebenden ukrainischen Obstbauern Jegor Redko, daraus eine Kultursorte zu züchten. Die Menschen erzählen sich noch heute, wie der Duft der Apfelblüten und das Aroma der reifen Früchte früher, von den Berghängen kommend, durch die Stadt züngelte. Heute sind auf dem Streifen des fruchtbaren Bodens Luxusvillen und Hochhäuser entstanden. Die Bäume, einst der Reichtum der Stadt, mussten einem anderen Reichtum weichen. Mit dem Zerfall der GUS kam das Ende für die Äpfel. Der wohltuende Wind der Berge, der den Apfelduft mit sich trug, ist dem Smog gewichen. Die Frischluft Schneisen, die das Klima der Stadt im Gleichgewicht hielten sind heute verbaut und versperrt. Im Jahr 2005, dem 140. Jubiläum der Apfelsorte, starteten große Kampagnen mit den Slogans: „Rettet ihn!“ und „Lassen wir den Aport auferstehen!“. Doch mehr als Apfel-Denkmäler aus Stein und dem heutigen Namen der Stadt „Almaty“ – „Apfelstadt“ ist in diesen Tagen für uns leider nicht sichtbar. Die Äpfel die wir hier kaufen und essen sind Importe aus Usbekistan und China. Nach der frisch klaren Luft der Bergwelt Kirgistans spüren wir die Schwere der Atemluft in Almaty besonders. So besprechen wir, soweit möglich, die nächsten Schritte zur Lieferung unseres Getriebes in der Werkstatt und brechen danach gleich wieder auf. Roman und Irina haben uns eingeladen mit ihren Freunden vom „Prohodimec – off road club“ übers Wochenende in die Berge zu fahren. Für uns eine doppelte Freude. Zum Einen lernen wir ein neues Stück Landschaft kennen, was uns normalerweise verwehrt bleiben würde und zum anderen kommen wir wieder mit Menschen in Kontakt, erleben ihre Art zu leben und zu sein. Romans Geländewagen parkt im Hof der MAN Werkstatt. Das Gepäck einzuladen ist eine Sache von Minuten. Genauso wie unser gemeinsamer Einkauf.
In Windeseile tragen wir vier die Dinge zusammen, die wir meinen zu brauchen. Bier ist reichlich dabei. Und Obst für mich. Einmal pro Jahr, zum Sommerauftakt, treffen sich ca. vierzig Leute in den Bergen. Der Weg ist beschwerlich. Das Ziel die Belohnung. Sie haben vor Jahren einen geheimen Platz in einem Tal zwischen zwei Hängen ausfindig gemacht. Ein wilder Bach fließt durch die windgeschützte Senke in 2.650 Metern Höhe. „Sommerauftakt“ muss hier oben nicht heißen, dass es Anfang Juni keinen Schnee geben kann. Doch wir haben Glück. Außer ab und an ein paar Hagelschauern ist das Wetter gnädig mit uns. Mehr hätte unser geliehenes Zelt wohl auch schwerlich verkraftet. Wir versuchen es so gut es geht abzuspannen. Doch wenn eine Reihe an Heringen fehlt, lässt das Ergebnis in jedem Fall Luft nach oben...
Wir sehen uns umgeben von vielleicht weiteren fünfzehn Zelten. Die Atmosphäre ist ein wenig wie zu Zeiten der Gründung von Dörfer. Ein buntes Lager inmitten der Berge. Aller Orten Miniszenen. Feuer züngelt, Holz knackt, wenn es zu Glut wird, Lammfleisch brät, Kinder springen kreischend umher, Babys weinen, Rufe hallen durchs Tal, es wird gesungen und Gitarre gespielt. Wir schalten unsere Sinne um zwei Uhr am Morgen ab. Für die meisten anderen geht es weiter bis zum Sonnenaufgang.
Gemischte Gefühle / mixed feelings
04.06.2015 Almaty / Kasachstan / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Wir haben wieder unser kleines Hotel in Bishkek bezogen und genießen die Ruhe. Einfach mal frisch geduscht auf dem Bett liegen. Herrlich! Nichts weiter überlegend als: „Erst frühstücken und dann lesen oder erst lesen und danach frühstücken?“ Zwischen allem was immerzu passiert ist es irgendwie auch einmal schön so ganz einfache Dinge zu tun. Erholung ist ja immer auch, das Gegenteil von dem zu tun, was man sonst so macht. Doch los, raus jetzt aus den Federn. Gleich ist es 11 Uhr und Victor steht unten im Hotel um sich von uns zu verabschieden! Wir zeigen ihm unsere Bilder der letzten Tage. Er strahlt über die Schönheit seines Landes. Selbst nimmt er sich nicht die Zeit an all die Orte zu fahren. Alltag ist eben immer etwas komplett anderes. Doch ich bin mir sicher, eine Zeit in den Bergen wäre auch für ihn und seine Kunst die pure Inspiration. Heute begnügt er sich erst einmal damit, dass wir ihm die Bilder per Stick überspielen. Wir freuen uns ihn getroffen zu haben und umarmen einander immer wieder. Auf unser Wiedersehen in Deutschland! Auch wir glauben, dass es nicht unsere letzte Reise nach Kirgistan gewesen sein wird. Die Natur des Landes hat uns tief bewegt. Victor geht und ein Taxi hält. Tati steigt aus. Vor vielen Jahren hat sie einmal eine Zeit lang in Jena studiert. Doch nicht nur Tati kommt, sondern auch Tynystan hält zeitgleich mit seinem Auto vor dem Hotel, um sich von uns zu verabschieden. Ihn hatten wir am Issyk-Kul Lake kennen gelernt und einen grandiosen Tag miteinander verbracht. Er studiert in Bishkek und wohnt in der Stadt. Tati und Tynystan schauen sich verwundert an. Dann blicken beide zu mir. Nun ist es an mir verwundert zu sein. Denn die beiden begrüßen sich. Es stellt sich heraus, dass sie nah miteinander verwandt sind. Was für ein Zufall! Wir glauben es nicht! Zufällig trafen wir Tynystan am Ufer des zweihundert Kilometer entfernten Sees. Zufällig kommen nun beide zur gleichen Zeit um sich mit uns zu treffen. Fünf Jahre hatten sie sich zuvor nicht gesehen. Manchmal ist das Leben unglaublich. Oder ist es das immerzu und wir glauben es nur nicht? Tati lädt uns in das Restaurant „Aladin und die Wunderlampe“ ein. Wir sitzen auf Divanen, deren Seitenwände im Wind wehen. Einen passenderen Abschluss können wir uns heute kaum wünschen.
Fügungen wohin wir uns wenden. Ist es da der Ausgleich der Kräfte, der auf der anderen Seite an unserer Geduld nagt? Wir haben in Deutschland ein Getriebe bestellt. Das Einzige, welches es weit und breit für unseren Fahrzeugtyp gab. Die Frachtpapiere wurden erstellt und die Fuhre per Land ging los. Wir haben uns darauf eingestellt in Ruhe zu warten, bis das Getriebe uns erreicht haben wird. In diesem Denken fuhren wir entspannt in die Berge. Doch hören wir nun, dass unsere Fracht irgendwo in einem Zwischenlager parkt und auf irgendwelche Anweisungen gewartet wird, bevor es weiter gehen kann. Doch wer erteilt wem welche Anweisung? Wer redet wann mit wem und mit welchem Ziel? Wer kann was tun und was ist hilfreich? Sollen wir handeln oder abwarten? Wir sind ruhiger geworden. Doch irgendwann wünschen wir uns doch, dass wir weiter ziehen können. Und dann wäre es einfach ein Traum, wenn der Leo fit ist und wir uns etwas beruhigter auf die Piste begeben. Doch bis dahin ist es noch ein Stück. Momentan fühle ich mich als sitze ich in einem Luftballon, der am Boden verankert ist. Er ist schön. Er ist bunt. Doch zu gern würde ich weiter fliegen mit ihm.
Steppengras/ Steppe grass
25.05.2015 Kapschagaj / Kasachstan / N43°46’12.2“ E077°02’51.3“
„MAN Service Almaty“ lesen wir am Eingangstor. Gewaltige „MAN“ Fahnen wehen uns entgegen. Eine Art Begrüßung. Der Hof groß, geordnet, Hort geparkter MAN Trucks. Sind wir in Aktau? Sind wir in Almaty? Die Plätze ähneln sich. Auch wenn dies hier der große Bruder zu sein scheint. Einen Empfangstresen, mit zwei Männern dahinter, gibt es. Der eine sehr freundlich, der andere eher still. Wir sind mit Yuliya verabredet. Deren Namen wir kaum ausgesprochen haben, als sie wie zufällig strahlend um die Ecke gelaufen kommt. Schnell ist alles geklärt. Der big Boss des Hauses schaut kurz herein. Er hat schon über Janathan, unserem Freund und Chef in Aktau, von uns gehört. Alle sind gut miteinander bekannt und vernetzt. Fehlt nur noch die Lieferung aus Deutschland... Warten wir nun also gemeinsam auf das Verteilergetriebe. Nein, sie haben aus Deutschland noch nichts gehört. Ja, sie geben uns Bescheid, wenn sie neue Infos bekommen. Wir. Können nur hoffen...
An uns ist es, zu klären, dass der Leo hier auf dem Hof stehen kann, während wir in Kirgistan sind. Läuft morgen ja unser fünfzehntägiger Visa freier Aufenthalt in Kasachstan aus. Also müssen wir das Land erst einmal verlassen. Wohin auch immer. Wir haben uns entschieden nach Bishkek, der Hauptstadt Kirgistans, zu fliegen. Kirgistan war ursprünglich nach Usbekistan unser nächstes Reiseziel. Doch können wir dem Leo momentan die Berge des Landes nicht zumuten. Wir hoffen, dass die Grenzabfertigung am Flughafen etwas routinierter abläuft als wir es von den Landübergängen kennen. Dort sind wir als reisende Ausländer ja immer vollkommene Exoten neben den Gastarbeitern und Lasttransportern. Für die Grenze brauchen wir die schriftliche Begründung der Werkstatt, warum wir ohne unseren eingetragenen LKW reisen. Ein komisches Gefühl. Auszureisen und unseren Leo zurück lassen zu müssen. Doch Gefühl hin oder her. Was muss das muss. Wird schon irgendwie klappen!!!
Mehr können wir im Augenblick nicht klären. Mehr kann Yuliya im Moment nicht für uns tun.
Die Stadt strengt an. Der Lärm und Staub macht kirre. Also nichts wie weg hier und ab in die Steppe.
Für uns ist es inzwischen wie „nach Hause kommen“. Wir suchen und finden eine Stelle weit ab der tosenden Zivilisation, parken den Leo, öffnen alle Fenster und Türen und kommen an in unserem „zu Hause“.
Einzig umgeben vom, im Wind wehenden, Steppengras.
Von Agatha zu Alwi / From Agatha to Alwi
24.05.2015 Almaty / Kasachstan / N43°15’16.5“ E076°55’07.0“
Agatha geht es besser. Die kleine Tochter von Irina und Roman hatte heftig mit einer allergischen Reaktion auf ihre Mückenstiche zu kämpfen. Doch heute Morgen hören wir ihr Jauchzen und sind erleichtert. Trotzdem die Stadt Almaty umgeben ist von Natur, trotzdem der Zustand der Luft hier um Vieles besser ist als an anderen Orten Zentralasiens, in denen die Salz-Sand-Winde durchs Land jagen, haben auch hier die Kinder mit vielen Allergien zu kämpfen. Die Spuren der Zivilisation zeigen sich offensichtlich allerorten.
Nun, gemeinsam schmeckt das Frühstück in der klaren Bergluft wunderbar. Obwohl wir uns noch immer gut gesättigt fühlen vom „Plov“ des gestrigen Abends. Inzwischen weiß ich, dass Zeiten des vielen und guten Essens sich abwechseln mit eher spartanischen Mahlzeiten. Also genieße ich ohne Reue, und werde in den kommenden Tagen ein wenig das Essen-Bremspedal treten...
Heute stehen wir aber noch voll auf dem Gas! Denn nachdem wir aus den Bergen zurück sind in der Stadt ist nicht etwa Ende der Veranstaltung. Nein, wir verabschieden uns von Irina, Roman und Agatha und begrüßen Alwi. Wir hatten ihn vor einer Woche am Schalter der Emigrationszentrale kennen gelernt. Wir standen wartend zusammen und kamen ins Gespräch miteinander. Da er die deutsche Sprache liebt, sie selbst sehr gut spricht und sich freut, wenn er Gelegenheit hat, mit Deutschen zu reden, lud er uns in sein Haus ein. Heute nun ist es soweit. Wir treffen uns im Hotel „Tien Shan“, seinem Arbeitsplatz. Dann geht’s an den Rand der Stadt in ein Eigenheim Wohnviertel. Alwi kommt vom Fußball spielen und trägt einen Trainingsanzug von „Dynamo Kiew“, seinem Lieblingsverein. Als die Tür seines Hauses aufspringt, steht sein Sohn Jussuf im gelben „Dortmund“ Fußballshirt vor uns. Er möchte Profi werden und hat mit seinen dreizehn Jahren gute Chancen, wie sein Vater erzählt. Drei weitere Kinder hüpfen munter durchs Haus und Alwis Frau ist damit beschäftigt, für uns zu kochen...
Alwi, Sten und ich nehmen im Wohnzimmer Platz. Es ist nur für uns drei eingedeckt. Wir wundern uns. Sind wir doch eigentlich zu Acht. Doch Alwi meint, die Familie isst später. Also gut. Immer wieder neue Sitten und Gebräuche. Die Familie kommt ursprünglich aus Tschetschenien. Geboren wurde Alwi in Almaty. Doch große Teile seiner Familie leben nach wie vor in der autonomen Republik, die zu Russland gehört.
Tschetschenien war zu UDSSR Zeiten keine eigene Unionsrepublik und ist somit nach dem Zerfall der GUS kein eigener Staat geworden, sondern ein Teil Russlands geblieben. Viele Fragen schwirren uns und Alwi durch die Köpfe. Wir hören, dass die Situation in Tschetschenien nun ruhig und gut ist. Dass er dort gern seine Verwandtschaft besucht, über sein Leben hier in Almaty aber sehr froh ist. Die ganze Familie spricht sowohl Russisch als auch die Sprache der Tschetschenen. Das bunte Kulturen Gemisch fällt uns in Kasachstan immer wieder auf. Durch die Sowjetzeiten sind viele Familien durchs Land gezogen und leben nun an ganz anderen Orten. Es gab eine Zeit des Rückziehens zu den ursprünglichen Gebieten, doch das tat nur ein Teil der Menschen. So ist die russische Sprache meist verbindend für alle. Obwohl in den ländlichen Gegenden heute nur noch Kasachisch gelehrt wird. Wir hören gebannt zu, erzählen von unseren eigenen Geschichten und merken kaum, wie der Abend dahin zieht. Alwi bringt uns später zum Leo, ist begeistert von unserer mobilen „Ein-Raum-Wohnung“ und fährt durch die Nacht davon.
Seerosenbecken / Basin full water lilies
23.05.2015 Qaskeleng Mountain / Kasachstan / N43°09’40.1“ E076°36’46.6“
Die Stadt ist erwacht und hat all ihre Geräusche mitgebracht. Kinder rufen, Autos hupen, Leute streiten, andere haben Spaß, der Müllkipper leert die Container. Wir drehen uns im Bett noch einmal um. Ist ja Wochenende... Leo steht geduldig am Straßenrand. Damit ihn die Langeweile nicht packt, haben wir ihn mitten im Zentrum Almatys geparkt. Er kann also schauen und gönnt uns die Ruhe. Unser Tag ist frei. Keine Verabredung. Einzig der Versuch unser Päckchen bei DHL zu bekommen steht an. Das Telefon klingelt. Sten springt auf und geht ran. „Ja, na das klingt doch toll! Machen wir gern. Ok, in fünfzehn Minuten.“ Was ist in fünfzehn Minuten? Frage ich mich und schaue Sten an. Gestern Abend beim Parken vom Leo hatte ihn ein Mann angesprochen, erzählt er mir jetzt. Sie machten ein paar Fotos vom Leo, gemeinsam mit Leo und noch einmal vom Leo. Am Abend war dann Zeit für Roman, unsere Webseite mit den Kochfilmen anzusehen. Und so kam ihm und seiner Frau Irina die spontane Idee uns in ihr Sommerhaus einzuladen, um unter freiem Himmel ihre Outdoor Variante vom „Plov“ zu kochen. In fünfzehn Minuten würden sie uns abholen, um gemeinsam zum Basar zu fahren, die Zutaten einzukaufen.
Das ist es also, was wir in fünfzehn Minuten tun werden. Alles geht nun ganz schnell. Fix zu Ende träumen, aufstehen, waschen, anziehen. Noch leicht benebelt und nicht wirklich wach sitzen wir eine Viertel Stunde später im Land Cruiser von Roman und Irina. Ihre dreijährige Tochter Agatha schaut ein wenig skeptisch um die Ecke. Sie sitzt angeschnallt in ihrem Kindersitz. Zu Hause für uns vollkommen normal, sehen wir es hier zum ersten Mal. ‚Die Kindersitzindustrie findet hier ein noch nicht gehobenes Marktpotential.’ So würde ich es nennen. An unserem ersten Stopp leuchtet alles Gelb. In einem neu gebauten, sehr ansehnlichen Gebäude finden wir die DHL Zentrale. Ohne Schwierigkeiten öffnet sich die Tür automatisch und auch am Schalter ist sofort ein Mann, von Kopf bis Fuß gelb/rot gekleidet, der fragt, was er für uns tun kann. Wir sind sprachlos über so viel Freundlichkeit und glauben kaum, dass wir so vollkommen ohne Schwierigkeiten eintreten konnten. Wir merken, wie wir unbewusst inzwischen immer damit rechnen, dass irgendetwas schwieriger wird, anders zu lösen ist oder erst einmal gar nicht. Als ich dem Herrn in Gelb/Rot unsere Referenznummer nenne und er gleich darauf bestätigend nickt, steigt Freude in mir auf.
Am Montag in Deutschland abgeschickt ist offensichtlich heute, am Samstag, unser Umschlag mit den Pässen in Almaty abholbereit. In Deutschland habe ich schon andere Erfahrungen gemacht. Doch hier ziehe ich echt den Hut vor DHL! Die Zustellung hat reibungslos geklappt. Nun schon zum zweiten Mal. Im Januar ließen wir Pässe mit Visa nach Istanbul senden. Diese waren pünktlicher als erhofft da und auch heute übertrifft die Lieferzeit all unsere still geäußerten Bitten. Mit dem neuen Visum bleibt uns nun genügend Zeit, um auf das Getriebe zu warten. Ohne, dass wir alle zwei Wochen ein- und wieder ausreisen müssen. Das steht uns am kommenden Dienstag erst einmal bevor. Wir wollen nach Kirgistan fliegen, um später mit unseren neuen Visa wieder ins Land zu kommen. Leo bleibt so lange in Almaty. Auch das ist erst mal nur der Gedanke. Wie es wirklich wird, wissen wir, wenn es geklappt hat. Freudig komme ich mit den Pässen in der Hand aus dem Gebäude. Die Sonne lacht und der Tag verspricht schön zu werden. Der Turbo des Motors heult auf und unsere muntere Fahrt durch die trubelige Samstagsstadt geht weiter. Eine Straße ist gesperrt für den Wochenendbasar. Rechts und Links und in der Mitte der Straße Stände über Stände. Stände mit Entenfleisch, Stände mit Lammfleisch, Stände mit Fett oder allem zusammen. Wir sind auf dem Fleischbasar von Almaty. Die Bauern der Umgebung verkaufen hier über das gesamte Wochenende hinweg ihre Ware. Vom Fleischbasar geht’s weiter zum Gemüse und später zum Reisbasar. Aus allen Ländern stehen dort volle Säcke. Vietnamesischer Reis, Pakistanischer Reis, gelber, weißer, rundkörniger, länglicher, größerer, kleinerer Reis. Jede Art hat ihr Spezifikum und ist für andere Speisen geeignet. Wir nehmen drei Kilo vom gelben länglichen pakistanischen Reis. Er ist fest und bleibt beim Kochen körnig. Sten hat die Beine des Schafs zwischen seinen eigenen und versucht Platz für so viel Bein zu haben. Freiheit den Beinen. Beinfreiheit. Trotz der vielen Beine fahren wir gemeinsam in das kleine Örtchen Qaskeleng, dreißig Kilometer hinter Almaty in den Bergen gelegen. In einer Art Wochenendsiedlung versuchen wir trotz niedriger Gasleitungen, locker hängender Stromkabeln und schief stehender Metallzäune auf irgendeine Weise mit dem Leo durchzukommen. Außer der Blinker Schale hat nichts weiter Schaden davon getragen. Nach der Aufregung das Vergnügen. Feuer im Freien anheizen, Fleisch und Gemüse schneiden, Speck ausbraten, rühren, warten, kosten. Das ist unser Nachmittag. Von zwei Uhr bis Acht sind wir damit beschäftigt, unseren Appetit auf den leckeren „Plov“ im Zaume zu halten. Keine leichte Angelegenheit, bei dem super anziehenden Duft, der dem großen Gußtopf entweicht. Wir sind sechs Personen. Kochen tun wir mindestens für Zwanzig. Das ist Romans Maßeinheit. Für weniger kennt er die Mengenangaben nicht. Drei Kilo Fleisch, drei Kilo Reis, drei Kilo Möhren, zwei Kilo Zwiebel. Ein Liter Öl, sechs Liter Wasser. So brauchen wir Kraft, um die achtzehn Kilo am Ende vom Feuer zu bewegen. Dazu und zwischendurch ein Bier aus der ortsansässigen Brauerei. In großen anderthalb Liter Plastikflaschen haben wir das Bier gekauft. Jedes Mal beim Kochen lerne ich einen kleinen neuen Zaubertrick. So auch heute. Hier setzt man eine komplette Zwiebel in das Öl, in dem später das Essen gegart wird. Ist die Zwiebel braun frittiert, entnimmt man sie dem Öl und wirft sie weg. Die Schadstoffe des Öls sollen sich nun in der Zwiebel gesammelt haben. Voll gestopft mit dem mehr als gehaltvollen und überaus delikaten „Plov“, doch glücklich über beide Ohren, rollen wir am Abend pausbackig in die Banja. Auf meinen Wunsch hin ist sie nur auf 100 Grad hochgeheizt. Zwei Saunagänge zum Akklimatisieren. Beim dritten Gang geht’s dann zur Sache. Roman bereitet Schüsseln und Becher mit Wasser und Duftstoffen vor. Ganz wohl ist mir nicht, als ich mich, mit dem Filzhut auf dem Kopf, auf die Saunabank lege. Steckt mir meine letzte Erfahrung in Karelien doch noch deutlich im Kopf. Kochend heiß war die Sauna und das dampfende Birkenreisig krachte nur so auf mich nieder. Heute ist es sehr angenehm und absolut zum Wohlfühlen. Der Schwall kalten Wassers über dem ganzen Körper am Ende der Prozedur IN der Sauna ist ne echte Überraschung und eine vollkommen neue Erfahrung für mich. Satt und warm liegen wir später im Bett und können es wieder einmal nicht fassen. Am Morgen wussten wir überhaupt noch nicht was der Tag uns bringen wird. Wir haben uns treiben lassen von den Zufällen und Ereignissen und sind so mit Roman, Irina und Agatha zusammen getroffen. Heute Morgen waren es völlig Fremde für uns. Nun sind es liebe Bekannte. Nicht einmal „durchschwommen“ haben wir die Zeit. Schon das klingt nach zu viel Gegenenergie. Vielmehr ist es ein Treiben lassen in den Stromschnellen, Strudeln und ein zufälliges Anlanden in kleinen sonnigen Seerosenbecken.
Spontanität will gut überlegt sein / Spontaneity will be carefully considered.
22.05.2015 Almaty / Kasachstan / N43°15’16.5“ E076°55’07.0“
Der bedeckte Himmel lässt die Wiese noch saftiger erscheinen. Er hüllt uns ein in seine tonlose Ruhe. Nur das Blubbern des Espressos ist zu hören, in der kleinen italienischen Kanne. Dazu das klimpern der Löffel, wenn sie an unsere geschwungenen türkischen Teegläser schlagen. Alles zusammen steht auf dem Kupfertablett aus Isfahan. Drumherum versammelt vier Deutsche in Kasachstan. Internationales Gipfeltreffen könnte man es nennen. Hier, unweit des Altyn Emel Passes. Es gibt noch viel zu erzählen. So scheint die große Lust zum Abschied nehmen noch keinen von uns gepackt zu haben. Vorgebrachte Gründe, die ein Bleiben rechtfertigen, finden sich auch. Schließlich müssen die Zelte abtrocknen und das Wetter soll zeigen, was es heute will. Also, die Kaffeekanne bemühen, um uns einmal, zweimal, dreimal frischen Espresso zu bereiten. Die Herzen schlagen schneller. Vom Kaffee, vom Reden, vom Spaß miteinander? Ein bunter Morgencocktail, den wir uns zusammen bereiten. Aus Spaß wird Ernst und der heißt in unserem Fall „Weiter fahren“. Die beiden sind unsere Vorhut gen Norden. In drei Tagen wollen sie Russland erreichen. Um von dort aus in die Mongolei zu gelangen. Genau unsere Strecke. Doch für uns wohl erst Wochen später... Wir biegen ab in den Süden. Almaty ist unser erneutes Ziel. Per Telefon und Nachrichten nähern wir uns an. Aigul wollen wir treffen. Wir kennen sie nicht. Sie weiß nichts von uns. Außer, dass wir heute Abend mit ihr kochen. Schon eigenwillig, welche Pfade sich unser Kochprojekt inzwischen sucht. In der Region spricht man von den „Sieben Hände“. Hat man ein Problem oder eine Frage, so wendet man sich von einem zum anderen. Bis man über Empfehlung und Tipps an jemanden gerät, der eine Lösung weiß. Aigul vergleicht unsere Begegnung mit diesem gelebten Ritual. Wir kennen Dina in Jena. Sie wiederum hat ihre Freundin Saule in Taschkent. Deren Bruder lebt in Almaty. Er nun ist befreundet mit Aigul. Und so wollen es die Hände, dass wir uns heute Abend treffen... Aigul lebt in einer geräumigen, hoch über der Stadt liegenden Wohnung. Sie hat ihre Freundin Zhanar eingeladen. Damit weitere Hände uns treffen. Wir erzählen uns vom Leben. Das an so verschiedenen Plätzen gelebt wird und heute Abend Kreuzwege der Begegnung einschlägt. Das Resultat unserer Kocherzählungen sind zwei im Leben stehende neue Bekannte, ein leckeres „Beschparmak“ aus Pferdefleisch. Heute in der almatyner Version. Und jede Menge persönliche Nähe. Wo kommt die nur her? Wie entsteht sie immer wieder aufs Neue? Wir danken Aigul, die einfach zustimmte, sich auf das Kochen mit uns einzulassen. Spontanität pur. Ohne langes Überlegen.
Keine halben Sachen / No half measures
21.05.2015 Altyn Emel Pass / Kasachstan / N44°15’39.7“ E078°29’08.0“
Kein Aktionismus am Morgen. „Bleib, wenn es gut ist.“, lautete der Tipp einer guten Freundin aus Istanbul. Sie reiste selbst für einige Monate und gab uns diese Worte mit auf den Weg. Heute Morgen fühlt es sich gut an, also bleiben wir. Der Rancher im Nationalpark hat sich hier, zwischen den zweihundert Jahren alten Bäumen, ein Paradies eingerichtet. Hühner gackern, die Hunde sitzen geduldig neben uns beim Frühstück und bekommen natürlich ab und an einen Happen ab, eine kleine Quelle lässt klares Wasser aus dem Boden sprudeln, die Vögel genießen den Schatten, den der Leo spendet. Sten zeichnet, ich lese. Weiter ziehen wir erst, als unsere inneren Stimmen meinen, es wäre nun gut. Den Vormittag ausgekostet, nicht schnell, schnell weiter. Getriebenheit hat Jahresurlaub. Ganz da. Ganz hier. Ne ganze Sache. Ganz wundervoll. Am Ausgang des Nationalparks war uns schon am Vorabend eine große sprudelnde Wasserstelle aufgefallen. Offensichtlich die Überreste eines fehlgeschlagenen Erdöl-Bohrversuchs. Uns gereicht es zur puren Freude. Harren unsere Wassertanks doch seit Wochen des Wassers was da irgendwann einmal wieder kommt. Und hier nun ist es da! Es schmeckt gut, es ist klar, es kommt aus den Bergen. Das hatten wir in der Osttürkei zum letzten Mal. Seit dem ist Trinkwasser immer ein Thema für uns. Pumpe auspacken, Schlauch anschließen, Konstruktion zum Auffangen bauen sind quasi Eins. Es funktioniert auf Anhieb. Das Wasser fließt, den Leo freuts. Fünfhundert Liter frisches Wasser! Ne ganze Sache. Was für ein Vergnügen! Vor uns tauchen zwei Motorradfahrer auf. Das geschieht selten, bis nie. Also halten wir an, um nach dem woher und wohin zu fragen. Es sind zwei Deutsche. Die Ersten, die wir auf unserer Reise treffen. Gestartet im Dezember war es eine Zeit, in der außer uns niemand unterwegs zu sein schien. Und auch jetzt bewegen wir uns offensichtlich meist an Orten, wo sich nur Einheimische aufhalten. Hier im Nationalpark ist es eine Ausnahme für uns und so lachen unsere Gesichter über die spontane Begegnung. Kleine Reparatur der kaputten Pedale, zwei kalte Biere geschenkt, kurz verschnauft und weiter geht’s. Einen Pass wollen wir heute noch überqueren. Ist ja für Leo immer Schwerstarbeit im Schneckentempo. Bringen wir es hinter uns. Und dann liegt er vor uns. UNSER See. Ein kleiner Bergsee voll Unschuld und so schön, als habe ihn jemand erträumt.
Die Natur hat einfach Geschmack. Sie kennt sich aus mit Proportionen. Sie hat Gespür für den geeigneten Platz und passende Accessoires. Ne ganze Sache. Nichts weiter. Plötzlich Motorengeräusch. Zwei Punkte tauchen auf. Es werden Motorräder daraus. Dirk und Martin steigen ab. Sagen, die kurze Begegnung mit uns war so schön. Also versuchten sie uns zu finden. Wie eigenwillig. Ist es Vorsehung? Soll es so sein? Noch nie hatten wir, von der Piste aus sichtbar, unser Lager aufgeschlagen. Heute ist es anders, heute können die beiden uns sehen. Alles klar. ...Jeder Zufall ist eine Verabredung... Es wird ein grandioser Abend zu viert daraus. Der Überraschungen noch nicht genug. Nachts. Taghell. Ausdauern, stark, gewaltig, voller Wucht und Groll zieht ein Gewitter über uns hinweg, welches einen neuen Namen verdient hätte. „Gewitter“ scheint nur in Ansätzen zu skizzieren, was wir in dieser Nacht an Kraft der Gewalten zu spüren bekommen. Der Leo schwankt, wir ziehen uns die Decken über die Köpfe wie Kinder. In dem Hoffen, wenn wir die Blitze nicht sehen, sehen sie uns vielleicht auch nicht. Zwanzig Grad Abkühlung beschert uns das Toben der Nacht. Halbe Sachen gibt es nicht. Die sind hier einfach nicht drin.
Singende Düne / Singing dune
20.05.2015 Basschi / Kasachstan / N43°56’24.5“ E078°28’50.1“
Irgendetwas in uns möchte bleiben und irgendetwas möchte doch weiter ziehen. Es ist schön, mal für ein paar Tage den Ort nicht zu wechseln, sondern am Morgen ein vertrautes Bild beim Öffnen der Tür zu haben und am Abend das Gleiche zu sehen, kurz bevor wir die Tür wieder verschließen. Und doch packen unsere Hände heute Morgen wie von selbst zusammen. Also weiter. Ganz in der Nähe des Stausees gibt es eine hohe Düne. Die möchten wir sehen. Zu der wollen wir hin. Luftlinie vielleicht achtzig Kilometer, haben wir dann doch schlappe Zweihundert zu fahren, da ein großer Nationalpark das Gebiet umschließt. Und der Eingang liegt nun einmal am vollkommen anderen Ende. Unserem lieb gewonnenen Steppenfeld sagen wir „Tschüß“ und das Schaukeln und Rumpeln und Poltern des Leos beherrscht uns aufs Neue. Wieder denken wir: „Halte bitte durch!“. Wird der Gedanke uns je wieder verlassen? Oder gehört er einfach dazu, zu unserem Unterwegssein? Aus Gelb wird Staub. Aus dem Staub wird saftiges Grün. Die Landschaft ändert sich. Ausläufer des Tien Shan Gebirges liegen wie Walrösser quer in dem riesig großen Tal des Siebenstromlandes „Zhetysu“. „Ile“, „Scharyn“, „Schelek“, „Tutgen“, „Issyk“, „Talgar“ und „Kaskelen“, sind die für meine Ohren fremd und trotzdem anziehend klingenden Namen der Flüsse, die das Gebiet zum Siebenstromland machen. Der Ile kommt aus China herüber geflossen.
Keine zweihundert Kilometer trennen uns hier von der Chinesischen Grenze. Und doch ist China für uns noch weit. Geplant haben wir, im September von der Mongolei aus nach China zu reisen... „Maybe“ und „So Gott will“ und „Inshalah“... Die saftig grünen „Rücken der Walrösser“ erheben sich mächtig in die Höhe. Zwei Pässe von eintausend siebenhundert Metern überqueren wir. Und sehen rechts und links unseres Weges die weitaus höher liegenden teils grünen, teils steinigen und verschneiten Gipfel. Ein verzückender Anblick und doch geht mein Herz so richtig auf, als wir wieder in meiner geliebten Weite gelandet sind. Gelb und frei liegt die Ebene erneut vor uns. Keine Ahnung warum, doch DAS ist MEINE Landschaft. Hier kann ich entspannen, hier fühle ich mich wohl, hier kann ich laut schreien und tief durchatmen. Die Rancher am Eingang des Nationalparks sind feine Typen. Sie erinnern uns an Robi, unseren Freund in Cocktown. Er zog vor Jahren mit seiner lieben und taffen Frau Kati nach Australien. Dort arbeitet sie als Ärztin und er ist Rancher. Zusammen leben sie ihren Traum. Vom Wüstenlack überzogen Steine so weit wir sehen können. Wüstenlack entsteht auf den Steinen, wenn sie im Sommer so heiß werden, dass Schmelzprozesse auf ihrer Oberfläche in Gang gesetzt werden. Wie glasiert sehen sie aus. Die Steine. Sie funkeln in der tief stehenden Sonne und sind uns Wegweiser zur Düne. Einhundertfünfzig Meter ist sie hoch und drei Kilometer lang. Sie liegt zwischen zwei Berghängen. Wir stellen uns vor, wie der Wind jahrein jahraus über die Ebene braust. Irgendwann scheint der Sand sich hier, an dieser relativ engen Stelle, verfangen zu haben. Und nun wächst sie an. Die Düne. Ragt heraus, sticht hervor und ist die unbestrittene Königin im Tal. Liebevoll wird sie mit Beinamen „Die Singende“ genannt. Man hört ihren Gesang nicht beim davor stehen. Man hört ihn nicht beim Aufstieg. Ihren Gesang schenkt sie erst beim Absteigen. Als der Sand gemeinsam mit uns nach unten fließt, hören wir den tiefen brummenden Klang. Das Singen der alten Dame.
Sein / Be
19.05.2015 Kapschagaj-Stausee / Kasachstan / N43°51’09.7“ E077°52’15.5“
Vom Bauch auf den Rücken, Drehen, Augen aufschlagen, Erwachen, Fenster öffnen, Licht und Wind herein lassen, Wasser kochen, Tee aufgießen, Frühstück im Freien, Reden, Schauen, Kauen, Atmen, Schweigen, Lesen, Schreiben, Lachen, Luft holen, Tief, Denken, Fühlen, Nichts Denken, Kaum Fühlen, Gelbes Gras, Wolken, See vor den Augen, Sonne hoch, Sonne am Horizont, Sonne versunken, Mond vielleicht, Sterne, Feuer, Sein.
Haus am See / House in the lake
18.05.2015 Kapschagaj-Stausee / Kasachstan / N43°51’09.7“ E077°52’15.5“
Haus am See / House in the lake
Wolken beobachten. Wann bleibt dafür schon einmal so richtig Zeit? Nicht nur für einen Moment. Nicht nur verbunden mit dem kurzen Ausruf: „Guck mal, da!“. Wir stehen mit dem Leo noch immer im weiten gelben Steppengras und nennen es „die freien Tage“. Wegen des Getriebes, welches geschont werden muss, und auf Ersatz wartet, können wir uns gerade nicht weit weg bewegen von Almaty. Doch sich in der staubig lauten und hektischen Stadt aufzuhalten, ist keine wirkliche Freude. Dem ziehen wir tausend Mal lieber einen Platz im Freien vor. Also gönnen wir uns, nicht weiter, immer weiter zu ziehen, sondern einfach zu bleiben. Schreiben und Lesen und Kochen und eben auch den Wolken in ihrem wirren Spiel am Himmel zuzuschauen ist, was unseren Tag ausmacht. Das Bild vor meinen Augen verändert sich von Stunde zu Stunde. Die Wolken reiben sich an den Bergen des Tien Shans. Sie stoßen an, blähen sich auf, machen Ernst, wie zum Spaß. Haben sie genug von all der Rauferei, ziehen sie ihrer Wege und lösen sich auf. Fäden von zartem Weiß zurück lassend. Sie gehen, wir bleiben. Einen einzigen Bauern gibt es hier draußen. Sein Haus wohnt direkt am See. In dessen Rücken liegen die Berge. Dazwischen Steppengras. Einsam im Winter. Einsam im Sommer. Doch ein Platz zum Sein zu allen Zeiten. Die Schafe kratzt das trockene Gras an den Beinen, während sie suchend die immer gleiche Runde drehen. Der Bauer kommt vorbei gefahren, seine Frau bei uns vorbei gelaufen. Sehen, wer die neuen Nachbarn sind. Wir geben Brot mit, Bananen, Bier und Bonbons. In die Stadt kommen sie nur selten... Ich greife an meinen Armreif, den ich als Beschützer von Svetlana geschenkt bekommen habe, und sage „Danke“ für diesen stillen, doch so vergnügten Tag. Das Glauben und Hoffen und Wünschen und Danken begegnet uns allerorten. Ist es das kurze Innehalten und Beten beim vorbei Fahren an einem Friedhof, um der Toten zu gedenken. Sind es die Geistlichen, die einfach auf der Straße zu einem sprechen, um uns einen „Weißen Weg“, eine problemfreie Fahrt zu wünschen. Sei es das Pfeifen, was Männern in der Wohnung und Innenräumen untersagt ist, weil es Ungutes anzieht. Und tatsächlich ging es an der Grenze neulich endlich vorwärts, als Sten das Pfeifen einstellte... Da sind die Frauen mit den räuchernden Pfannen, die überall Zutritt haben. Egal, ob in einer Werkstatt oder dem Grenzkontrollhaus. Die schlechten Energien zu vertreiben ist überall wichtig. Wasser wird vor einer Brücke aus dem Auto gespritzt, um heil ans andere Ufer zu gelangen. Als Schutz vor dem bösen Blick gelten bei kleinen Jungen lange Zöpfe, Bänder an der Frontscheibe im Auto und alle möglichen hängenden Gebilde an den Eingängen von Höfen und Häusern. Als wir vor ein paar Tagen ein kleines Schnitzmesser verschenkten, wurden uns zwei Geldscheine dafür gegeben. Nicht, um das Messer zu bezahlen. Der Brauch sagt, dass ein geschenktes Messer nur im Stande ist seine guten Dienste zu leisten, wenn Geld dafür gegeben wurde. So bewegen wir uns mit einer ganz neuen Form der Achtsamkeit durch die Tage und bekommen ein zartes Gefühl, eine leise Ahnung davon, wie Hoffen und Wünschen und Bitten und Danken und Glauben der Boden und der offene Raum für Halt und Zuversicht sind.
Sendepause / Transmission break
17.05.2015 Kapschagaj-Stausee / Kasachstan / N43°51’09.7“ E077°52’15.5“
Einfach Zeit haben. Den Tag kommen lassen. Den Tag sein lassen. Den Tag gehen lassen. Lassen. Lassen. Lassen. Und uns gleich mit dazu. Uns ist nach Ruhe zu Mute. Keine Strecke fahren. Kein Ziel erreichen. Keine Verabredung. Keine Erledigungen. Einfach auf der Stelle stehen. Um mich schauen. Genau sehen was HIER ist. An diesem einen kleinen beliebigen Ort. Nichts weiter. Nicht wissen wollen, was hinter der nächsten Grasnarbe passiert. Unsere Köpfe rufen „Sendepause“, unsere Beine „still stehen“, unsere Nervenzellen haben „Eingangsstopp“. Das Bauchgefühl freut sich, dass wir ihm Gehör schenken und bleiben. In Mitten der weiten Steppe, die so unbegrenzt ist und uns doch einen inneren Raum der Besinnung schenkt. Wir packen nicht zusammen, wir packen aus. So viel hat sich in den letzten Tagen angesammelt, wovon wir uns heute in aller Ruhe erzählen. Wir begegnen noch einmal all denen, die wir in Usbekistan trafen. Dariusch und Svetlana, die beiden Halbperser, die wie mit einer Stimmgabel Iran wieder in uns anklingen ließen. Sergey, der seine Herzensliebe dem Weinanbau und der usbekischen Küche schenkt. Zukhra und Julduz, Mutter und Tochter, die gemeinsam ein so starkes Team sind. Saule, Dariya, Zara, Mannat, Laure, Kanat, Ulugbek, die Familie und Freunde unserer lieben Usbekin Dina. Wir durften eintauchen in ihr Familienleben und hatten unsere helle Freude dabei. Hannelore und Helmut, die beiden Frohgemüter aus Chiwa. Ohne uns überhaupt gesehen zu haben, luden sie uns spontan zu einer Hochzeit ein. Stimmen sind vielleicht auch Einblicke in Herzen? Wir reden und denken viel an Markha, Bakhitjan, Shakhnoza und die ganze große Familie, mit der wir leise, nachdenkliche, aber auch lustig, klangvolle Momente verbrachten. Und Assunta, die Italienerin, die es nach Tashkent verschlagen hat. Sie schwirrt in unseren Köpfen zwischen all den anderen in ihren bunten Kleidern umher und versprüht ich herzhaftes Lachen. So viele Leben, die nun ein Teil unser beider sind. Menschen begegnen und mit ihnen gemeinsam ein Stück Weg zurücklegen. Meine Herzensfreude. Dabei kommt es nicht auf die Länge der Strecke an, vielmehr auf die Art des gemeinsamen Gehens. All das braucht Raum zum Nachhallen und Besinnen. Den Hall der Stimmen und Worte noch einmal wahrnehmen. Das Gesagte begreifen. Das Erlebte im „Besinnen“ den Sinnen zugänglich machen. So steht der Leo heute im Wind. Ist unsere kleine Schutzwelt, unser Hafen, unser Heim. Ich lese vor. Den ganzen Tag lang. Wir lassen das Wetter draußen, die Wolken, die Berge, das gelbe Gras und die kühle Frische, die mit dem Sturm kam. Eingangsstopp und Sendepause.
Alles bleibt anders / Everything remains different
16.05.2015 Kapschagaj-Stausee / Kasachstan / N43°51’09.7“ E077°52’15.5“
Spontanität, das ist die Sportart in der wir uns wohl gerade am meisten trainieren. Jeden Tag gibt es in den angrenzenden Disziplinen Erwärmungsübungen, Aufbauprogramme und kleine eingestreute Partneraufgaben. Muskelkater haben wir von dem ganzen Spontanitätsprogramm schon lange nicht mehr. Wir befinden uns eher im Fortgeschrittenen Level, wie uns scheint. Doch vielleicht trügt uns das Gefühl und wir turnen noch voll im Anfängerkurs. Keine Ahnung. Auf jeden Fall sind wir mittendrin. Gestern in Almaty angekommen, hatten wir die kurz gefasste klare Vorstellung, wir machen uns mit dem Chef der AHK bekannt und fahren dann zur Werkstatt weiter, um uns vorzustellen und abzustimmen, wie wir mit dem Getriebe verfahren. Bei der AHK angekommen, war der Chef freundlicherweise bereit uns mehr seiner Zeit zu geben als wir hoffen konnten. Und Hilfe bot er uns sofort an, was den Vorgang der Anmeldung in Kasachstan betraf. Es war schnell herauszubekommen, dass die Meldestelle noch genau eine Stunde geöffnet haben würde. Also nichts wie spontan umentschieden und mit der muttersprachlichen Unterstützung und dem Backround der Deutschen Wirtschaft zur Emigrationsbehörde gefahren. Das sollte es uns dort um Einiges leichter machen. Die Pässe mit allen nötigen Angaben, Formularen und Hinweisen abgegeben hielten wir an dem Plan fest zur Werkstatt zu fahren. Also, Arm raus halten. Um eines der „Taxis“ abzufangen, die auch hier von fast jedem gefahren werden. Zur besseren Verständigung dem Fahrer das Telefon ans Ohr gehalten, so dass unsere Kontaktperson in der Werkstatt den Weg beschreiben konnte. Langes hin und her. Fragende Blicke. Dann Telefon wieder am Ohr von Sten. Eine Stunde dauert die Fahrt mindestens. Macht es wirklich Sinn, diese zwei Stunden Hin und Rück auf sich zu nehmen, jetzt, an diesem Abend? Wir entscheiden uns spontan um und verabreden uns für einen Zeitpunkt nach dem Wochenende, wenn wir, so alles bis dahin klappt, aus dem Norden der Stadt kommen und somit in direkter Nähe wären. Also, wieder aussteigen, den Taxifahrer mit leicht verdutztem Blick zurück lassen und neu denken. Wir haben jetzt urplötzlich einen freien Abend und gehen entspannt essen. Können wir ehe nur sehr selten machen.
Die Garküchen an den Straßen haben oft sehr viel Lokalkolorit doch sind wir uns nicht sicher, ob unsere Mägen so viel Abenteuerlust verdauen. Hier in Almaty sehen die Speisen Vertrauenerweckend aus und so gönnen wir uns einen Abend voller Sommergefühl. Nächster Tag. Heute. Zwölf Uhr heißt es, können wir die Pässe mit den nötigen Stempeln abholen. Da am Leo noch nichts gemacht werden kann, so lange das Getriebe aus Deutschland noch nicht eingetroffen ist, bleibt uns momentan einzig die Wahl, uns in der Nähe Almatys aufzuhalten und durch seichtes, für Leo vertretbares Gelände zu fahren. Also, Gemüse, Brot, Eier, Wasser einkaufen, dann die Pässe abholen und losfahren. Gemüse, Brot, Eier und Wasser bekommen wir. Das klappt. Am Schalter der Meldestelle sieht es da schon mal ganz anders aus. Die Dame dort, für mich der Prototyp der hiesigen Beamtin, ernster verschlossener Blick, streng zum Dutt gekämmte Haare, Uniform korrekt geschlossen, Sätze, die ihren Mund wie Salven verlassen. Sie nimmt unsere Zettel, die angeben, welche der beiden Pässe in dieser unendlich langen Reihe die unsrigen sind, schüttelt den Kopf, gibt uns die Zettel zurück und sagt „Montag“. Das kleine Fenster schließt sich. Ende der Vorstellung. Wie Montag? Das bedeutet, wir können uns keinen Meter weg bewegen. Denn ohne Pass ist es nicht möglich, die Stadt zu verlassen. Haben wir uns mit unserem Einkauf schon wieder zu weit hoffnungsfroh nach vorn gewagt? Waren wir schon wieder davon ausgegangen, dass etwas so läuft, wie gedacht? Wir greifen zum Telefon um bei der AHK anzurufen. Wir erreichen tatsächlich eine Dame, die verspricht, etwas für uns zu tun. Wir mögen bitte einfach warten. Und tatsächlich. Nach ein paar Minuten, greift Frau „Dutt“ sich unsere Pässe, um sie händisch zu den Damen zu bringen, welche die Bearbeitung vornehmen. Noch fünf oder sechs andere, dann ist unser Vorgang an der Reihe. Halten wir nicht tatsächlich am Ende der Öffnungszeit unsere abgestempelten Pässe in der Hand? Wir können es kaum glauben und danken unserer Kontaktperson im Hintergrund über alle Maße. Was sie getan hat, wissen wir nicht. Doch es scheint wirkungsvoll gewesen zu sein. Manchmal werden wir gefragt: „Wie kommt ihr nur zu den Leuten, die mit euch kochen?“. Zum Beispiel so. Ich frage einen ebenfalls wartenden Mann in der Meldestelle, ob ich sein T-Shirt mit der Aufschrift „Kazakhstan“ fotografieren darf. Er stimmt lachend zu und es entspinnt sich ein Gespräch zwischen uns. Dass er in Deutschland war und Trainer ist für die kasachischen Skiläufer. Dass er Deutsch spricht und sich gern mit uns verabreden würde. Wir gehen auf die Menschen zu und manchmal ergeben sich spontan ganz neue Dinge daraus. Wir lassen uns leiten von der Ausstrahlung der Menschen. So Vieles ist daraus ablesbar.
Wir können nun also doch die Stadt verlassen und tun es in nördlicher Richtung, um zu einem Stausee zu fahren. Klares Wasser und seichte Sandstrände sind die magischen Vorstellungen in unseren Köpfen. Vorbei nur noch an einer kilometerlangen Casino Meile. Achtzig Kilometer hinter Almaty hat man diese angesiedelt. Um das Spiel mit dem Glück nicht direkt in der Stadt zu haben. Dann, der See. Einhundert Kilometer ist er lang. Da sollte sich doch ein Plätzchen für uns finden. Wir fahren und fahren und erreichen das Ufer. Alles fein hier. NUR es leben Milliarden von Mücken am Ufer des Sees. Hier können und wollen wir nicht bleiben. Spontane Wendung. Wir finden unseren Halt landeinwärts auf dem Steppenland und schaffen es gerade noch rechtzeitig, uns ein wenig zu sortieren. Als ein Sturm aufzieht, der die Stühle wegbläst, alle Fenster zu knallen lässt, Sand durch die Gegend wirbelt, den Himmel verdunkelt und uns sagt: „Keine Ahnung wie ihr euch den Abend vorgestellt habt. Ich habe meine eigenen Pläne!“.
Unter deutscher Flagge / Under German flag
15.05.2015 Kasachstan / Almaty / N43°14’37.5“ E076°56’13.5“
Heute ist so ein „Zieltag“. Seit dem wir am 28. April nach Usbekistan eingereist sind, war es unser Ziel, heil nach Almaty zu kommen. Jeden Tag haben wir dem Leo gut zugeredet, dass er doch bitte durchhalten möge und uns durch Usbekistan fährt und anschließend auch die achthundert Kilometer von der kasachischen Grenze bis nach Almaty. Er hat manchmal ganz schön geächzt und unsere Ohren sind inzwischen auf jedes noch so feine Geräusch geeicht, welches er von sich gibt. Um zu hören, dass ihm nichts Grundsätzliches fehlt. Genau so geht es uns mit den Gerüchen. Überall brennen kleine Feuer oder fahren Gefährte an uns vorbei, welche die merkwürdigsten Gerüche von sich geben. Dann ist es an uns zu trennen, was könnte vom Leo kommen und was ist einfach um uns herum. Ja, wir brauchen den Leo, um voran zu kommen und wir lieben ihn. Er ist unser zu Hause, unser Rückzug, unsere Oase, unsere Insel. Wenn wir die Tür hinter uns zu schließen, ist es vollkommen egal, wo wir gerade Halt machen. Dann tauchen wir ein in unsere kleine, ganz eigene Welt. Elf Uhr ist für uns eine gute Startzeit am Morgen. Das hat sich so eingespielt. Ich habe dann meist meine Gedanken zum vorhergehenden Tag aufgeschrieben, wir haben gemütlich gefrühstückt, uns um Erledigungen am Leo gekümmert, Wasser aufgefüllt, oder was sonst so zu tun ist, erledigt. Zweihundert Kilometer bis Almaty liegen noch vor uns. Wir legen sie zurück, indem wir durch seichtes Hügelland fahren. Meine Augen sehen Rot. Rot zu allen Seiten. Sind doch die Grashügel komplett mit Klatschmohn überzogen. Ich möchte mich nicht bewegen. Ich möchte kein Foto davon machen. Ich will nur schauen und die Landschaft genießen. Es ist ein sattes Land. So gesund und saftig wirkt es. Ganz anders, als die Salzkrusten überzogenen Böden im Westen Kasachstans oder im Westen Usbekistans. Hier scheint das System von Wasser, Wind und Sonne ausgewogen zu sein. Die angrenzenden Berge des Tien Shan sorgen für reichlich frisches Wasser in den Niederungen. Da wundert es mich, dass hier kein Obst und Gemüse an gebaut wird. „Das wird alles importiert“ wird uns am Nachmittag erzählt. Die Kultur ist einfach nicht danach. Hängt wohl mit der nomadischen Historie zusammen. Hier gibt es Steppenland und Pferde. Ein unglaubliches Bild, welches sich tief in mir einbrennt. Der Stau des Nachmittags lässt uns die Einfahrt nach Almaty fast Millimeterweise aufnehmen. Langsam arbeiten wir uns voran, zwischen all den anderen wild ein- und abbiegenden Autos. Auch hier scheint ein jeder eine imaginäre Knautschzone um sich herum zu haben. Meist geht es gut.
Doch immer wieder sehen wir die Ergebnisse der Manöver, die mit reichlichen Blechschäden abgingen. Wir ziehen instinktiv unsere Köpfe ein. So tief hängen die Kabel der Oberleitungsbusse. Doch es gibt nur den einen möglichen Weg. Also können wir nur hoffen, das ganze Kabelgestrüpp nicht mit dem Dach vom Leo herunter zu reißen. Offensichtlich geht es gut, denn kein Geschrei und Gehupe von hinter erreicht uns. Und plötzlich stehen wir, wie durch ein Wunder, vorm Eingang des Gebäudes der AHK, der Deutschen Außenhandelskammer. Wir sind lose mit dem Chef verabredet und freuen uns, als er ein paar Minuten Zeit für uns hat. Wir trinken gemeinsam einen Tee, tauschen die eine oder andere Begebenheit aus und erfahren von ihm, wo wir uns in Almaty anmelden können. Es ist auch hier entscheidend, nach drei Tagen im Land registriert zu sein. Das Gute ist, dass es in Kasachstan genügt, dies ein Mal für die Zeit des Aufenthaltes zu tun. Hingegen in Usbekistan für jeden Tag eine Registrierung nötig war. Der Chef des Hauses ist so freundlich, uns eine Begleitung zur Seite zu stellen, die uns hilft, die Anmeldung vorzunehmen. So fahren wir im Wagen, mit deutscher Flagge, zur Meldebehörde. Ein Stück deutscher Boden, der hier durch Almaty fährt. Sprechen doch alle im Auto Deutsch mit uns. Anastasia hilft uns beim Ausfüllen der Anmeldebögen. Dann landen unsere Pässe auf einem großen Stapel, der immer wieder zu kippen droht, so hoch ist er. „Morgen um 12 Uhr können sie die Pässe abholen.“ wird uns versichert. An uns ist es, Vertrauen zu schenken und auf morgen zu hoffen. So schließen wir heute unsere Augen in direkter Nachbarschaft zur AHK. Wir schmunzeln der kleinen deutschen Flagge am Haus gegenüber noch einmal zu und löschen das Licht. Heimat fühlt sich aus der Ferne irgendwie wertvoll an.
Unter der Glocke / Under the cloche
14.05.2015 Kasachstan / Kurday / N43°12’10.2“ E074°44’15.6“
Der Morgen steigt heiter in seinen Tag ein. Doch irgendetwas scheint ihn umzutreiben. Denn von Stunde zu Stunde hüllt er sich mehr und mehr ein. Zuerst in Dunst, dann lässt er Wind aufkommen, der jedes Sandkorn zu bewegen scheint, welches sonst ruhig unter den Grasnaben schlummert. Die Luft ist dick, die Sicht verschwommen. Wie züngelnde Feuer erhebt sich rechts und links unseres Weges der Sand. Um sich in der Höhe mit den anderen aufgestiegenen Staubkörnern zu vermählen. Sie tanzen und feiten und ringen. Ist es ein Spaß? Machen sie Ernst? Wir durchqueren die Landschaft. Wir sind real und fühlen uns doch wie Besucher. Es liegt eine Kraft in der Luft, die für mich spürbar, doch nicht greifbar ist. Alles scheint elektrifiziert. Wir sind im Spannungsfeld der Energien. Können dem nicht entkommen. Wir sind umschlossen von einer Glocke aus Staub und Dunst und schwüler Wärme. Die Grenztürme könnten nicht passender stehen. Sie sind unsere Kontrolleure zur Rechten. Fast können wir die Mimik der Grenzposten erkennen. So nah verläuft unsere Piste entlang der Linie zu Kirgistan. Verstärkt die Grenze diese eigenwillige Stimmung? Abschwächend wirkt sie jedenfalls nicht. Kirgistan. An diesem Punkt wollten wir eigentlich sechs Wochen später nach Kasachstan einreisen. Nun rollen wir alles von der anderen Seite auf. Irgendwie schön, nicht so fest im Plan zu stecken. Das macht frei, das lässt Raum zum Atmen und Entfalten. Wir sehen den Zufall als Bestimmung. Das geschieht hier draußen einfach so. Wie anderes auch mit uns passiert. Ein subtiles Verschieben der Wahrnehmung setzt ein. Man hat es nicht im Griff. Und das ist gut so. Am Abend kommt ein Wind auf, der Sturm genannt werden möchte. Es ist einer von der ernsten Sorte. Seine Freunde, die dunklen Wolken und Blitze, begleiten ihn. Wir testen gleich mal unseren Blitzableiter aus und installieren vorsorglich eine Kette, die wir mit einem Hering im Boden verankern. Soll er doch in den Boden flitzen, der Blitz. Wenn er denn unbedingt kommen will. Endlich, endlich entlädt sich die angestaute Energie des Tages im Gewitter der Nacht. Meine Haare stehen nicht mehr zu Berge. Ich komme erschöpft zur Ruhe. Diese Unmittelbarkeit des Geschehens. Diese Absolutheit der Kräfte. Und wir? Einzig Grashalme im Wind.
Weites Land / Wide country
13.05.2015 Kasachstan / Zhambyl / N42°41’52.5“ E070°52’43.6“
In dem Augenblick, als wir gestern die Grenze zwischen Usbekistan und Kasachstan überquerten, veränderte sich das Bild der Landschaft. Als hätten sie sich bei der Grenzziehung danach gerichtet. Usbekistan ist in meinen Augen DAS Land des Orients. Ich hatte das Gefühl, dort mit all meinen Poren den Orient aufzusaugen. Alles passte zusammen. Die Gerüche, die Bauwerke, die Art der Frauen, sich zu kleiden. Kasachstan nun sagt mir „Guten Tag“ mit riesigen Grasebenen, Herden aus unzähligen Pferden, die ungestüm über die Wiesen galoppieren, hohen Bergen, die sich am Horizont zeigen. Natur pur. Ein Sanatorium für die Augen, eine Wohltat für jeden Winkel meiner Lungen. Ich atme tief das Grün der Wiesen und das Blau des Himmels ein, welches so genial darüber schwebt. Durch dieses Bild fahren wir heute. Vernebelt wird es ab und an vom Staub der Piste. Massen an LKWs versuchen sich gemeinsam mit uns einen Weg zu bahnen. Das holpert und polpert sich ziemlich dahin und findet erst seine Ruhe auf den manchmal ebenen Straßen. Innerhalb von fünf Stunden kommen wir gerade einmal einhundertfünfzig Kilometer voran. So ist das hier. Wenn wir uns nicht gerade vollkommen auf die Piste konzentrieren müssen, heben wir unsere Blicke und schauen gerade aus. Mehr braucht es für uns hier nicht, um uns rundherum wohl zu fühlen. Tanken! Was freut sich da der Leo. Er bekommt wieder frischen Diesel und den in guter Qualität. Nachdem es offiziell in Usbekistan gar keinen gab, schluckt er nun in großen Zügen und füllt, wie ein Kamel, alle seine Höcker mit der Power gebenden Flüssigkeit auf. Wir lassen ihn trinken soviel er mag. Denn mit 50 Cent pro Liter ist es auch hier ein guter Preis. Abends sehen wir einen See und steuern darauf zu. Wir kommen zum Halten auf einer Landzunge, die so schön ist, dass ich Sten frage, ob es gerade wahr ist, dass wir hier sind. Das Bild um mich herum hat etwas Paradiesisches. Es ist eine heil wirkende Welt. In vollkommener Ausgewogenheit liegen da das Wasser und die seichten Wiesen friedfertig nebeneinander. Die angrenzenden Berge geben dem Ganzen die nötige Ernsthaftigkeit, von der sich die Frösche im Wasser jedoch wenig beeindrucken lassen. Ganz nah hören wir die Hufe der Pferde, die sie beim Galopp auf den Boden schlagen. In regelmäßigem Abstand gesellen sich die Rufe der Reiter dazu, die ihre Herde, aus Pferden und Rindern, zusammen treiben. Die Sonne beweist Geschmack und schickt ein warmgelbes Licht in die Szenerie.
Wir zwei können unser Glück kaum fassen und sehen diesem Spiel des Lebens beseelt zu.
„Wundertüte“ Grenze / „Miracle bag“ border
12.05.2015 Kasachstan / Qazyghurt / N41°43’20.7“ E069°24’44.6“
Mein Magen weiß es als Erster. Heute ist wieder einmal „Grenztag“. Kurze Nacht. Schnelles Aufstehen. Liebevolles Frühstück und eine labende Dusche bei der Oma. Sie packt uns Proviant für den Tag zusammen und steckt ihn mir zu. Eine schöne Idee. Hält sich mein Hunger heute Morgen doch sehr in Grenzen. Doch irgendwann heute werde ich mich freuen, über die mit Ei panierten Brote.
Wir sind ein wenig konfus. Wohin sollen wir fahren? Bis gestern Abend stand für uns fest, dass sich, unserer Karte folgend, die Grenze im Norden Tashkents befindet. Nur zwanzig Kilometer hinter der Stadt ist sie in der Karte eingezeichnet und auch eine Straße führt dort hin und von da weg. Doch wie sich die Dinge so ergeben, hörten wir gestern Abend beim „Stammtisch der Deutschen Wirtschaft“, dass dieser Übergang nur für Fußgänger, nicht für Fahrzeuge, und für Ausländer gleich gar nicht, erlaubt sein. Was heißt das nun? Es ist keine weiteres Grenzsymbol auf unserer Karte zu finden... Es wird spekuliert und darüber gesprochen, wie es vor fünf Jahren einmal war. Dass es einen Übergang sechzig Kilometer in südwestlicher Richtung gab. Doch ob der für Ausländer geöffnet ist, bleibt unklar. Dariusch gibt sein Bestes und telefoniert und recherchiert für uns und versichert uns heute Morgen, dass es wohl dieser Übergang sei, den wir nehmen können. OK. Wir probieren es. Unser Visum für Usbekistan läuft heute aus und so hoffen wir, dass sich des Rätsels Lösung irgendwann am heutigen Tag finden lässt. Dem Leo noch gut zureden, dass er uns bitte bis zur Grenze fährt und los geht es. Dichter Verkehr, in den Straßen Tashkents, begrüßt uns. Die Art Auto zu fahren ist auch in Usbekistan eine sehr spezielle. Doch heute geht alles drunter und drüber. Eine neue Brücke und Straße wurden eröffnet, sind aber bisher nur teilweise befahrbar. Was dazu führt, dass zum einen die gewohnten Strecken nicht mehr gefahren werden können, die neuen aber eben auch noch nicht. Es hupt und schreit und quietscht um uns herum. Manche steigen aus und geraten in Streit miteinander. Ampeln versuchen mit ihrem roten und grünen Licht ein wenig Struktur zu geben. Doch das interessiert hier niemanden. In all dem Durcheinander stehen Polizisten und wedeln wild mit ihren Stäben. In deren Haut möchte ich gerade so gar nicht stecken. Wie dem auch sei. Irgendwann haben wir uns durchgewurstelt und verlassen die Stadt.
Nach sechzig Kilometern kommen wir in die Nähe dessen, von dem es heißt, dass hier die Grenze sei. Kein Schild, kein Hinweis. Die Leute die wir fragen, zeigen wahlweise nach rechts oder links. Wir orientieren uns an den Himmelsrichtungen und stehen tatsächlich nach irren und wirren plötzlich vor einer Schranke, die so aussieht, als sei sie der Eingang zur Grenze. Wir freuen uns, heute sogar auf einiger maßen befahrbaren Wegen hier her gekommen zu sein. War die „Straße“ doch bei all den letzten Grenzen jeweils eine reine Katastrophe. Wir merken, dass wir in dieser Hinsicht inzwischen mit fast allem rechnen und sind erfreut, wenn es einmal NUR die Orientierung ist, die fehlt. Passkontrolle die Erste. Weiter zum großen Eisentor. Dort gibt uns der Posten zu verstehen, dass wir zurück fahren müssen. An das imaginäre Ende einer Schlange von Trucks. Gut. Zurück fahren und warten. Man hatte uns schon vorgewarnt, dass es mitunter auch passiert, dass die Grenze wegen Quarantäne oder anderer Unwegbarkeiten spontan geschlossen wird. Unser Freund aus Deutschland fand am Wochenende die passenden Sätze dazu am Telefon: „Man lernt hier zu warten. Dabei weiß man nur nicht wie lange und worauf.“ Doch noch ist es Vormittag und wir sind zuversichtlich, dass sich vor Einbruch der Dunkelheit irgendetwas zuckt. Denn die Arbeitszeit bemisst sich hier am Tageslicht. Die Grenze schließt, wenn das Tageslicht schwindet, steht angeschrieben. Irgendwann starten die Motoren und es kommt Bewegung in die Schlange der LKWs. Sten als Fahrer wird an einen anderen Schalter verwiesen als ich. So stehe ich in der Schlange der fußläufigen Passagiere und wabere mit den Wogen der vielen Frauen, Männer und Kinder mit, die bepackt mit großen Säcken, Taschen, Kisten und Kartons für ordentlich Leben sorgen. Die Trucker Fahrer sind mit Sten in einer anderen Schlange und ich hier der vollkommene Exot.
Lange schaut der Kontrolleur in meinen Pass. Hin und her blätternd und mit seinem Computer kommunizierend. Ich wünsche mir, dass ich endlich das Klicken seines Stempels höre, um gehen zu können. Doch er lässt sich Zeit. Langsam presst er ihn dann in den Pass hinein und reicht ihn mir ohne eine Regung im Gesicht durch den Schlitz in der Scheibe. Ich bin also ausgereist. Doch was ist mit Sten? Er steht und ist noch keinen Schritt weiter. Später reist quasi erst der Leo aus, bevor sich auch Sten in die Schlange der Passagiere stellen darf, um dort seinen Ausreisestempel zu bekommen. Hätte man auch einfach haben können, indem man uns zusammen gelassen hätte. Doch darum geht es hier nun wirklich zu allerletzt. Wofür sich niemand interessiert, sind unsere täglichen Aufenthaltsnachweise in Usbekistan. Das scheint Tagesform abhängig zu sein, worauf er Fokus gerade gelegt wird. Wir wissen es nie im Voraus und können dann einfach nur reagieren, wenn es soweit ist. Genau so ergeht es uns an der kasachischen Grenze. Die Grenzer wollen von uns eine Versicherungspolice sehen, die wir nicht haben. Von Deutschland aus ist so etwas für Kasachstan nicht machbar. Also haben wir sie nicht. Zwei Stunden lang diskutieren wir mit Händen und Füßen, dass wir keine professionellen Fahrer sind, sondern Privatreisende. Dass der Leo zwar groß, jedoch am Ende nur ein Wohnmobil ist. Dass sie uns doch einfach sagen sollen, was es kostet, eine Police abzuschließen. Und, und, und. Wir treten auf der Stelle und drehen uns im Kreis. Immer neue Männer kommen hinzu und gehen dann wieder, um andere kommen zu lassen. Wir begreifen nicht, was eigentlich das Problem ist. Denn am Ende schicken sie uns einfach in ein Häuschen hinter der kasachischen Grenze. Dort schließen wir die Police ab und gehen zurück. Zwei Stunden Aufregung für nichts. Ein Visum für Kasachstan haben wir nicht. Nächste Baustelle. Es gibt für Deutsche eine einjährige Sonderregelung, die besagt, dass man für zwei Wochen jederzeit ohne Visum ein- und ausreisen kann. Ich stehe wieder in dem Pulk der Landgänger und lasse mich mit allen zusammen hin und her schieben. Es ist ein wenig wie auf dem Viehmarkt. Ab und an werden ein paar von uns in die nächste Bucht vorgelassen. Als ich an der Reihe bin, kennt der Beamte entweder die Regelung nicht, versteht mich nicht, oder hat einfach keine Lust. Immer wieder fragt er nach meinem Visum, welches ich nun mal nicht habe und schickt mich dann entnervt zum nächsten Schalter. Dort spielt sich das gleiche Szenario ab und ich werde an den dritten und letztmöglichen Schalter verwiesen. Meine Rettung. Der Beamte versteht ein wenig Englisch und nickt, als ich von der Sonderregelung spreche. Uff. Ich bekomme meinen Einreisestempel und die Emigration Card. Fein. Nun kann ich für fünfzehn Tage in Kasachstan bleiben. Sten noch nicht. Er ist noch immer mit den Leuten beschäftigt, die sich um die Papiere vom Leo „kümmern“. Warum er keinen Einreisestempel hat, wollen die Herren später wissen. Na ganz einfach. Weil sie ihn bis zu diesem Schalter noch gar nicht haben gehen lassen. Wirklich kurios. Zum Glück kann sich der Mann am Stempelschalter noch erinnern und es gibt keine weiteren Fragen, sondern einfach eine Einreise-Genehmigung in seinen Pass. Sind wir jetzt durch? Wir schauen uns an und wissen es nicht. Nein, sind wir nicht. Jetzt wird der Leo untersucht. Jede, wirklich jede Kiste muss Sten aufmachen und auspacken. Alle Fächer werden genauestens inspiziert und durchsucht. Und weil das nicht reicht und der Grenzer auf Grund unserer Route durch die Türkei, Iran, Turkmenistan... skeptisch bleibt, wird der Leo komplett geröntgt. Zum Glück haben sie die Anlage gleich hier vor Ort, und wir müssen nicht, wie in Ashgabat, kilometerweit im Konvoi fahren, um zu einer solchen Station zu kommen. Um zehn Uhr heute Morgen waren wir an der Grenze. Nun ist es kurz vor Fünf, als sich das Tor öffnet und wir nach Kasachstan fahren. Sieben Stunden, die es echt in sich hatten. Zur Befriedung finden wir, in dem sich vor uns ausbreitenden weiten Land, so unendlich schöne grüne Wiesen und wilde Getreidefelder. Wir lassen uns in ihnen fallen und müssen lauthals lachen, über diese „Wundertüte“ Grenze.