Russischer Stil / Russian style
06.06.2015 Tien Shan Gebirge / Kasachstan / N43°10’40.8“ E077°44’23.0“
Material schonend zu handeln, wie es der Deutsche liebt, entspricht nicht unbedingt der russischen Mentalität. Der Winter war lang, jeder Muskel lechzt nach Aktivität. Da spielt es kaum eine Rolle, ob vor einem Geländewagen ein Baumstamm liegt oder nicht. Das Fahrzeug MUSS da drüber gezogen werden. Pfeil auf alles, was die Physik dazu zu melden hat. Das Temperament ist ein anderes. Das merken wir auf Schritt und Tritt. Es ist direkter, unerbittlicher, auch härter im Nehmen, als wir es generell gewohnt sind. Eine blutüberströmte Fleischwunde am Fußgelenk, zugezogen am Wasserfall, hindert noch lange nicht daran, nach dem notdürftigen Verbinden wieder wild bergauf zu rennen. Zu Reiben scheint an diesen Beinen nichts. Das sind wohl nur europäische Wehwehchen. Wenn wir solche Beobachtungen machen und sie dann auch ansprechen, kommt oft die Sprache auf den Krieg. Das genau an dieser Stelle der Hase im Pfeffer lag. Die Deutschen in Vielem überlegen waren, aber eben nicht in der mentalen Stärke. Das Wetter, die Größe des Landes, die Beschwerlichkeit des Lebens scheint den Menschen in diesen Landstrichen irgendwie eine weitere Schutzhaut gegeben zu haben. Sie lieben die Schönheit der Natur hier, reagieren sensibel darauf und haben auf der anderen Seite etwas Gegerbtes an sich. Beim Laufen freuen wir uns wie die Kinder von ihren Eltern dazu angehalten werden den weggeworfenen Müll von anderen aufzusammeln. Sie tun es ohne Murren. So oft sehen wir, wie leere Flaschen aus Autos fliegen. Hier in den Bergen ein gegenteiliger Lichtblick. „Manche wollen, dass wir wieder nach Russland gehen“, erzählt uns Irina. Generationen zuvor hat es die Menschen quer durch das Land gespült. Nun ist Kasachstan ihre Heimat. Sie wurden hier geboren. Auch wenn der Vater aus Sibirien kommt und die Mutter Weißrussin ist. Hier im Osten Kasachstans finden wir immer wieder ein so gewaltiges Gemisch an Typen. Manche sehen aus, als ob sie uns in Jena schon begegnet seien, andere, als kämen sie aus den entferntesten chinesischen Winkeln. Das angenehme Klima hat Viele hier versammelt. Und doch ist es offensichtlich nicht immer einfach, die Toleranz des Miteinanders zu leben. Als kleiner Zwischensnack in der hungrig und schläfrig machenden Höhe baut uns Irina eine russische Spezialität zusammen. Dicker, geräucherter Bauchspeck auf Schwarzbrot. Zur geschmacklichen Abrundung kommt obenauf ein Stängel Lauch. „Das beste Essen gegen die Kälte. Und ideal als Grundlage für den Wodka!“, lernen wir. Eben ganz der russische Stil. Allen anderen scheint die Höhe nichts auszumachen. Sie sind daran gewöhnt. Unsere Herzen hingegen schlagen wie wild nach ein paar Kilometern Höhenwanderung. Anschließend fallen wir in einen komatösen Schlaf, begleitet vom Bergbachrauschen des nahen Wassers.