Zahlensalat / Figure salad
17.09.2015 Yongsheng / China / N26°33’13.4“ E100°46’47.5“
Die Busfahrer sind die Härtesten. Ihnen scheint es vollkommen egal zu sein, was hinter der nächsten Kurve los ist, oder dass die Straße nur eine gewisse Schmalheit hat und daneben der steile tiefe Abgrund das nächste Reiseziel ist. Mit lautem und ausdauerndem Hupen rasen sie an uns vorbei, koste es was es wolle. Die Insassen müssen mit unglaublichem Vertrauen gesegnet sein, um nicht von einem Schreck in den nächsten zu fallen. Wir verbünden uns mit den Unmengen an Truck Fahrern, die gemeinsam mit uns entlang der Serpentinen schleichen. Vor den Kurven bleiben wir oft stehen, um die heran donnernden Trucks auf der Gegenspur passieren zu lassen. Zwei LKW nebeneinander. Unmöglich. Konzentration ist von uns gefragt, auf jedem Meter. Die Anspannung sitzt mit uns im Leo. Ich kann sie förmlich sehen. Doch wir geben uns entspannt. Am Straßenrand, in wagehalsigen Nischen, stehen Frauen und Männer und preisen ihre wunderbar süßen Mangos an. In Papiertüten gehüllt, hängen die reifenden Früchte an den Bäumen, bevor sie in Styropor-Kisten zur Verschickung verpackt werden. Auch das geschieht am Straßenrand. Wo denn bitteschön sonst? Ist ja kein Platz weit und breit. Direkt neben der Straße ergießt sich das Land in all seiner Steilheit. Da gibt es keine ebenen Flächen. Und wenn, dann wird darauf Reis angebaut. Reisanbau und Ernte. Heute scheint nach tagelangem Regen die Sonne. DER Tag um den Reis zu ernten. Zu Hauf sind die Menschen auf den Feldern unterwegs, um mit Maschinen oder ihren bloßen Händen die Felder abzuernten und danach die Reiskörner auf jedem, noch so kleinen Fleckchen, zum Trocknen auszubreiten. Wie auf einem „Wimmelbild“ sieht es aus, wenn Frauen mit ihren Kindern auf dem Rücken und Männer mit Säcken bepackt, dabei sind, den Reis zu bergen. Alle sind in Bewegung. Jeder ist in Aktion. Schnelligkeit ist gefragt, denn der nächste Regen kündigt sich mit seinen dunkel aufziehenden Wolken bereits an. Zurück bleiben die zu tausenden aufgestellten „Strohpuppen“, die der Landschaft ein fröhlich verspieltes Gesicht überstreifen.
Abschleppfahrzeuge sehen wir heute ne ganze Menge. Darauf Fahrzeuge im ganz eigenen Einheits-Design. Bis zu den Fensterscheiben sind sie in rotbraune Farbe getunkt. Das Wasser steht ihnen noch immer bis zum Hals, oder wenigstens schaukelt es in den Scheinwerfern hin und her. Die Autos kommen aus den Tälern, in denen es offensichtlich Überschwemmungen gegeben hat. Jetzt sind sie dort an manchen Stellen dabei, eine neue Straße zu bauen. Quasi eine Autobahn durch die Wohnzimmer der alten Häuser. Ein bizarres Bild. Doch wie gesagt, auf Einzelschicksale kann hier wenig Rücksicht genommen werden. Was würde das bei uns in Deutschland für eine Welle der Empörung auslösen, wenn eine neue Straße direkt DURCH gewachsene Wohnstrukturen führen würde? Hier hat man hingegen froh zu sein, dass der Fortschritt Einzug hält…
Ohrenbetäubend ist der Lärm, den die Kinder aus ihren Kehlen zaubern, als ich am Nachmittag ihren Schulhof betrete. Sie sind aufgeregt und schüchtern, und werden offener und mutiger, je länger ich einfach dastehe. Ich scheine etwas extrem Fremdes für sie zu sein. Ausländer machen wahrscheinlich selten Halt in diesem kleinen Dorf. Doch für uns sind es immer die schönsten Augenblicke, wenn wir den Menschen auf dem Land näher kommen können. Es sieht so aus, als wohnte ein Teil der Kinder auf dem Schulgelände, den Räumen, vollgestellt mit Doppelstockbetten, nach zu urteilen.
Ihre roten Halstücher tragen sie ganz selbstverständlich locker um ihre Hälse gebunden. Mädchen und Jungen rennen miteinander über den Hof. Und ich glaube, es sind annähernd gleich Viele. Obwohl es in China ansonsten einen deutlichen Jungs-Überhang gibt. Von fünfunddreißig Millionen Männern sprechen die Zahlen momentan, die vergebens nach einer Frau suchen, weil schlichtweg zu wenige geboren wurden. Die „Ein-Kind“ Politik, die in den Siebziger Jahren eingeführt wurde, hat dazu geführt, dass viele Familien den illegalen Weg gegangen sind und nur einen Jungen zur Welt gebracht haben. Heute ist die Regelung wieder etwas gelockert. Auf dem Land dürfen die Familien zwei Kinder bekommen, wenn das Erste ein Mädchen ist. „Han-Chinesen“, die mit 92 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe unter den 56 Ethnien Chinas darstellt, dürfen zwei Kinder zur Welt bringen, wenn die Eltern beide jeweils ein Einzelkind waren.
Die „Ein-Familien“ Politik hatte zum Ziel, die Bevölkerung Chinas bis zum Jahr 2020 nicht über eine Milliarde Menschen anwachsen zu lassen. Momentan gehen die Behörden davon aus, dass die aktuelle Zahl 1,3 Milliarden beträgt und bis zum Jahr 2033 auf 1,5 Milliarden anschwellen wird. Hat also doch nicht ganz geklappt mit der einen Milliarde… Und trotzdem überaltert China stark. Bis zum Jahr 2040 soll ein Drittel der Chinesen über sechzig Jahre alt sein.
Wir sind heute auf dem Land und wir sind gerade bei den „Han-Chinesen“. Addiert sich das dann mit den Kindern, wenn sie hier doch zwei Kinder bekommen dürfen, falls das Erste ein Mädchen war und ebenfalls Zwei, wenn sie als Eltern Einzelkinder gewesen sind?
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